Unterschiedliche Situationen aber auch Kategorien werden von verschiedenen Personen anders erlebt und bewertet. Was genau die Definition von einem Aro-Moment für jeden einzelnen ist, kann ich wohl nicht beantworten, aber als ich den Begriff gehört habe, dachte ich gleich an solche Erfahrungen, in denen mir mein eigenes Aromantisch-Sein, meine Aromantik und mein durch diese beeinflusstes Empfinden im Alltag bewusst werden.
Ich verbringe schließlich auch nicht den ganzen Tag damit, darüber nachzudenken, was es für mich bedeutet, aromantisch zu sein und wie sich diese Aromantik auf mein Denken, Fühlen und Bewerten ausdrückt.
Aber was sind jetzt eigentlich meine Aro-Momente?
Für mich persönlich sind das oft Distanzerfahrungen, also Augenblicke in denen ich mich selbst in Abgrenzung und gefühlter Ferne zu meinen Mitmenschen erlebe. Meist kommt es dazu, weil mir der Unterschied zwischen dem Empfinden meines Umfelds und meiner eigenen durch meine Aromantik geprägten Wahrnehmung so stark bewusst wird, dass für mich ein spürbarer Abstand zwischen mir und anderen Menschen entsteht. Mitunter aber auch, wenn ich merke, dass ich Dinge anders konzeptualisiere und bewerte, als die alloromantischen Personen rund um mich herum.
Ob das nun ein Tag ist, an dem sich meine Kolleg*innen exzessiv über ihre romantischen (Ex-)Beziehungen austauschen und ich merke, dass ich mir gerade sehr schwer tue, mich hineinzudenken … Oder auch wenn ich sehe, wie sich täglich, was weiß ich wie viele – das Mitzählen habe ich lang aufgegeben – Paare vor dem Kuss von Gustav Klimt küssen. Ja, das Bild zeigt ein küssendes Paar, aber ich verstehe schlichtweg nicht, was da den Anreiz dazu bietet. Es scheint fast so, als müssten Partner*innen ein kitschiges Bild von sich küssend vor Klimts Liebespaar vorweisen können, um sich als romantische Partner*innen zu qualifizieren. An manchen Tagen könnte ich meinen, irgendjemand hätte tatsächlich diese Regel aufgestellt.
Aber egal, wie sehr ich mich bemühe, oder versuche mich daran zu erinnern, wie befreundete Personen versucht haben, es mir zu erklären, in Momenten wie diesen merke ich, dass ich nicht ganz dahinterkomme, was in den Köpfen von alloromantischen Menschen vorgeht. Egal was ich über romantische Anziehung oder Verliebtheit weiß, oder wie sehr ich mich bemühe, was ich beobachte, zu konzeptualisieren, mein Verständnis bleibt doch immer theoretisch. Wirklich nachvollziehen kann ich es nicht. Das heißt aber auch, dass ich mich bei diesen Themen nicht wirklich mit alloromantischen Personen verbinden oder auf einer Ebene sein kann. Und dadurch kommt es zu einer gewissen Distanz. Meine Aromantik wird mir deutlich und fühle die Ferne zwischen mir und meinen Mitmenschen.
Noch stärker erlebe ich das bei Hochzeiten.
Je älter ich werde, umso mehr Menschen in meinem Bekannten- oder Freund*innenkreis heiraten, umso klarer wird mir, dass ich die Geschehnisse immer wieder auf eine andere Art und Weise erlebe, als die Mehrheit der geladenen Gäste. Die meiste Zeit versuche ich das zu ignorieren, was mal besser mal schlechter gelingt. Das kann schon einmal dazu führen, dass ich die ganze Zeit überenthusiastisch mit (alleine) tanzen verbringe und alles andere komplett ignoriere, oder mich bei der nächsten Feier aus dem Kern des Geschehens zurückziehe, um Zeit für mich alleine zu verbringen, obwohl es sich um die Hochzeit einer Person handelt, mit der ich sehr eng befreundet bin und wo eigentlich Präsenz von mir erwartet wird. Aber egal, wie ich gerade damit umgehe und wie sehr ich mich gerade damit auseinandersetze … Wenn ich zum großen Tag einer bekannten oder befreundeten Person eingeladen bin, werden mein Empfinden und meine Stimmung immer von diesem Abstand beeinflusst, in dem ich meine eigene Wahrnehmung zum Erleben meiner Mitmenschen verorte. Natürlich gibt es darauf auch andere Einflüsse, aber je romantischer die Feier ausfällt und je mehr die Menschen rund um mich herum sich dafür begeistern können, umso mehr fühle ich mich von ihnen distanziert und auf mich selbst zurückgeworfen. Ich merke: „Huch, ich erlebe das gerade anders als die alloromantischen Personen rund um mich herum.“ Damit liegt mein Augenmerk auch schon auf den Unterschieden.
Ich begreife mich selbst in Abgrenzung zu anderen durch meine Aromantik.
Mein aromantisches Empfinden wird mir bewusst.
Und ich erlebe einen Aro-Moment.
Mal stärker, mal weniger stark. Je nach Situation kann der Moment auch noch andere Qualitäten haben und auch wenn es sich um eine Distanzerfahrung handelt, kann ich für mich persönlich noch nicht einmal sagen, ob ich diese Erlebnisse für mich als positive oder eher negative Erfahrungen bewerten würde. Es sind zwar immer wieder auch schwierige Situationen dabei – das kommt schon alleine daher, dass ich mir manchmal schwer tue mit der erlebten Distanz umzugehen, besonders wenn das Gefühl gerade stärker ist. Oder auch weil ich mich manchmal etwas alleine fühle, weil mir beim Thema ‚Romantik‘ die Verbindung zu meinen Mitmenschen kaum möglich scheint. Andererseits lerne ich mich durch diese Distanzerfahrungen aber auch besser kennen besonders in Bezug auf meine Aromantik. Ich erfahre mehr über mich selbst und denke vielleicht darüber nach, wie ich selbst (in manchen Momenten eben in Abgrenzung) manche Dinge erlebe. Es wird konkreter, wie sich mein aromantisches Empfinden auf mein alltägliches Leben, meine Gedanken oder Gefühle auswirkt oder aber ich hinterfrage meinen Umgang mit Distanzerfahrungen allgemein. Die treten am Ende ja nicht nur beim Thema Aromantik auf, auch wenn das Fehlen romantischer Anziehung hier ein großes Thema für mich ist.
Aber müssen es immer Distanzerfahrungen sein?
Muss sich mein Aro-Sein immer in einer abgrenzenden Erfahrung zu meinen Mitmenschen ausdrücken?
Nein, auf keinen Fall.
Zumindest nicht für mich, auch wenn die „positiven Aro-Momente“ für mich im ersten Augenblick viel weniger greifbar waren als die, wo ich mich erst einmal in Ferne zu meinen Mitmenschen verorte. Schließlich bleiben herausfordernde Erfahrungen mir oft besser im Gedächtnis und weil ich oft nicht unmittelbar erst durch Reflektion auf die Situation zu meinem persönlichen Ergebnis komme, nehmen sie insgesamt auch mehr Gedankenraum ein. Diesen Raum brauchen kleinere zufällig auftretende Aro-Momente nicht und andere Momente sind vielleicht schon im Gespräch mit anderen Personen soweit reflektiert, dass ich mich dann nicht mehr so stark mit ihnen beschäftige. Oder zumindest nicht damit, wie sich mein aromantisches Empfinden in ihnen ausdrückt, sondern eher mit einzelnen geteilten Gedanken.
Während ich Unterhaltungen unter Kolleg*innen oft als Distanzerfahrung erlebe, würde ich einzelne Gespräche mit befreundeten Personen zu (A)Romantik oder romantischen Beziehungen zum Beispiel nicht als solche kennzeichnen, selbst wenn ich mir im Gesprächsverlauf stark meinem eigenen aromantischen Empfinden bewusst werde. Da wird dann über die Unterschiede gesprochen, aber gleichzeitig lassen sich auch genügend Gemeinsamkeiten darüber feststellen, wie zum Beispiel generell über Beziehungen gedacht wird. Ich kann versuchen, meine Wahrnehmung zu erklären und alle beteiligten Personen haben die Zeit, zu versuchen, sich hineinzudenken. So manche Bewertungen, Wahrnehmungen oder Gedanken mögen unterschiedlich sein, aber bei allen Unterschieden gibt es immer auch etwas das entweder interessant genug ist, um erörtert zu werden, oder im Endeffekt doch irgendwie wieder verbindend wirken und die Ferne überbrücken.
So auch bei einem Gespräch, das ich neulich geführt habe.
Eigentlich wollte ich ja mit einer ehemaligen Klassenkollegin primär über meine Erfahrungen in Bezug auf das asexuelle Spektrum sprechen, als ich das Telefonat mit ihr ausgemacht habe – oder zumindest war das was sie hauptsächlich interessiert hatte – aber vielleicht auch unter anderem weil ich mich primär als aromantisch ansehe, haben wir dann auch erstaunlich viel über Aromantik gequatscht. Es war ziemlich cooles Erlebnis, für uns beide sehr interessant und auch wenn ich mit einem Menschen gesprochen habe, der meine Erfahrungen wohl in einigen Dingen nicht teilt, habe ich das in diesem Moment nicht als distanzierend wahrgenommen. Eher war es auch für mich selbst gewinnbringend, manche Gedanken und Empfindungen noch einmal anders in Worte zu fassen. Das kann ich natürlich auch in Gesprächen mit anderen Menschen auf dem aromantischen Spektrum machen, aber im Austausch mit alloromantischen Personen muss ich vieles noch einmal anders erklären. Ich erlebe mich auf eine besondere Weise als aromantisch. Durch die Unterschiede zwischen mir und meinen Gesprächspartner*innen entsteht hier nicht primär Distanz sondern neue Möglichkeiten, die für alle beteiligten Personen bereichernd sein können. Wir können im Austausch miteinander wachsen und meine Aromantik wird hier nicht nur zu einem integralen Bestandteil davon, wie ich mich in diesem Augenblick erfahre, sondern auch zu einem gewinnbringenden Beitrag für jeden einzelnen.
Und dann gibt es auch noch die Aro-Momente, die so random auftreten, dass ich mich danach oft nicht einmal mehr wirklich daran erinnere. Aber egal, ob es sich nun um eine Distanzerfahrung handelt, eine Hochzeit oder den Augenblick in dem ich meine Pflanzen gieße und mir in diesem Moment wieder einmal bewusst werde, dass ich mit Pflanzen statt einem Partnermenschen eigentlich sehr zufrieden bin … Meine Aro-Momente verraten mir eigentlich immer wieder etwas Neues über mich selbst.
Wie zum Beispiel genau jetzt, wo ich diesen Absatz geschrieben habe und dabei feststellen musste, dass ich mir nicht sicher bin, wie viele Menschen es sonst so auf diesem Planeten gibt, die mehr intrinsisch motiviert sind, sich um ihre Pflanzen zu kümmern, als nach Partnermenschen für eine romantische Beziehung zu suchen …
~ Finn