Von Schwarz zu Grau

CN: (Internalisierte) Queerfeindlichkeit, Sex-Negativität, fundamentalistische Weltanschauung, Sexualität und Sex

Als ich das Wort „Aromantik“ zum ersten Mal hörte, war ich bereits Teil der A*spec-Community. Nach einer – durch eine Freundin angestoßenen – Internetsuche war ich mit etwas Mühe erst auf Asexualität gestoßen. Und nachdem das zu dem Zeitpunkt, das zutreffendste Wort war, hatte ich mich schließlich damit beschrieben. Als ich mich nach einiger Zeit dann durchrang vorsichtig und unverbindlich auch die Community einmal anzusehen, lernte ich zwar schnell, dass es auch so etwas wie Graubereiche im asexuellen Spektrum oder auch Aromantik gibt, nutzte aber erst einmal nur das Wörtchen „asexuell“ als Narrativ, um mein Leben dadurch zu betrachten.
Dabei wäre Aromantik rückblickend naheliegend gewesen. Die Wortgruppen und Schlagwörter, die ich in meiner Internetsuche verwendet hatte, hatten sich eher auf einen Mangel an romantischen Gefühlen, Desinteresse bis Abneigung gegenüber romantischen Handlungen und ähnliches bezogen und waren das, was mich in der Suche nach einem Narrativ am meisten beschäftigt hatte.
Trotzdem … Ich hatte auch angefangen, die Gedanken rund um mein Gender zu akzeptieren und es war auch nicht unbedingt einfach gewesen, mich überhaupt einer A*spec- und breiteren LGBTQIA+ Community anzuschließen. Nachdem ich nicht einmal ein Jahr davor erst den letzten großen Umbruch in meiner Lebenswelt abgeschlossen hatte, ging es wieder darum, mein Leben neu zu ordnen, noch einmal Narrative neu zu schreiben und weitere Glaubenssätze zu dekonstruieren. An eine Community Anschluss zu finden, war da gar nicht so einfach. Einerseits hatte ich eigentlich eine Abneigung gegenüber „Zugehörigkeit zu etwas“ entwickelt, mit der ich mich erst auseinandersetzen musste. Außerdem war ich mir nicht sicher, ob ein  Mensch wie ich in der queeren Community überhaupt einen Platz hatte. Nicht aufgrund meines A*spec-Seins oder weil ich mich nicht queer genug gefühlt hätte. Ich war wohl queer. Aber wer ca. fünf Jahre zuvor auf einer Gegenparade zur Regenbogenparade mitgelaufen ist, kann nicht einfach „von einem Tag auf den anderen“ auf der Pride mitlaufen, keine Pronomen mehr verwenden wollen und sich als Teil der LGBTQIA+ Community ansehen, als wäre nie etwas anderes gewesen. Und wenn das nicht gerade von anderen Menschen so gesehen wurde, dann am Ende doch von mir selbst.
Aber die Narrative, mit denen ich zuvor mein Leben verstanden hatte, waren nicht mehr verwendbar.
Und es war schwer genug, mich mit dem Wort „asexuell“ zu bezeichnen.

„Asexuell“ beschrieb also eine ganze Weile ganz gut sowohl meine sexuelle Orientierung als auch meine romantische Ausrichtung. Bis ich das Wort „aromantisch“ für mich angenommen habe, sollte es noch eine Weile dauern. Aber als das dann der Fall war, wurde es schnell zu einer wichtigen Beschreibung für mein Erleben. Ich stellte fest, dass es für mich eigentlich um einiges wichtiger war als mein Narrativ zur Asexualität. Eine Weile habe ich mich dann als Aroace verstanden und auch anderen Menschen die Möglichkeit gegeben, mich zu verstehen.

Vor bald eineinhalb Jahren heiratete dann eine früher einmal sehr gute Freundin von mir. Sie wollte schon seit Jahren heiraten, Ehefrau und Mutter werden, aber dass es wirklich so weit war, kam bei mir erst einige Wochen vor ihrer Hochzeit an. Wir hatten davor schon einige seltsame bis schwierige Situationen und ich habe zu verstehen begonnen, dass ihre Heirat auch eine weitere starke Veränderung und Einschränkung unserer Freund*innenschaft nach sich ziehen würde. Darauf habe ich zuerst auch meine unerwartet heftige emotionale Reaktion zurückgeführt. Da schien mir nichts Ungewöhnliches dran zu sein. Eine Freundin von mir heiratete. Wir hatten uns schon in den Jahren davor in bestimmten Punkten immer mehr in sehr unterschiedliche Richtungen entwickelt und jetzt würde sich unsere Freund*innenschaft erneut stark verändern. Sie würde nicht mehr mit mir in einem Bett schlafen wollen, weil das dann etwas war, das exklusiv ihrem Ehemann gehörte und ich würde nicht mehr denselben Stellenwert in ihrem Leben einnehmen wie davor. Unsere Freund*innenschaft hatte sich in den letzten Jahren schon verändert und wir hatten uns voneinander entfernt. Es war doch nicht verwunderlich, wenn ich da um die verlorene Beziehung trauerte.
Es dauerte eine Weile, ehe ich verstand, dass unsere Freund*innenschaft bis zu einem bestimmten Zeitpunkt auch einen großen Teil meiner sensuellen Bedürfnisse erfüllt hatte. Und noch länger, meinen Wunsch nach sensueller Ebene von meinen verschwommenen und verwaschenen sexuellen Gefühlen zu trennen. Wohl auch deswegen, weil wir uns Jahre davor versprochen hatten, uns gegenseitig nicht zu sagen, sollten wir uns je ineinander verlieben. Gut, verliebt (im romantischen Sinne) habe ich mich auch nicht, aber nachdem sexuelle und romantische Gefühle gesellschaftlich so eng verwoben waren und ich sie nicht wirklich sonderlich klar wahrgenommen habe, war ich wohl auch gut darin, sie selbst zu ignorieren. Ich frage mich, warum wir einander damals überhaupt dieses Wort gegeben haben. Internalisierte Queerfeindlichkeit war sicher ein Punkt. Wohl auch um einander zu schützen. Aber schützen muss eine Person sich nur vor einer reellen „Gefahr“.
Vielleicht wussten wir irgendwo, dass die besteht.
Vielleicht wussten wir zu dem Zeitpunkt beide, dass irgendetwas queer ist.
Auch wenn wir es uns selbst nicht eingestehen konnten.

Meine sexuellen unter den sensuellen Gefühlen wahrzunehmen war eine Herausforderung.
Das lag zum einen daran, dass die sensuelle Ebene um so viel klarer und stärker war, während sexuelle Anziehung sich auf ein schwaches und unbestimmtes Gefühl beschränkte. Wie ein Musikstück in der ein Instrument viel lauter spielt und das andere fast vollständig übertönt, wenn es für meine untrainierten Ohren ohnehin schon schwer ist, überhaupt eines davon wirklich zu erkennen und beide nicht unbedingt alltäglich sind.
Andererseits war da natürlich das Wissen, dass eine sexuelle Beziehung für uns ohnehin nicht möglich war. Sie hätte der Sache nie zugestimmt und wir hatten uns ein Wort gegeben, uns gegenseitig nicht in diese Situation zu bringen, sollte das doch der Fall sein. Eine sexuelle Beziehung wäre so unmöglich gewesen wie eine romantische oder irgendeine andere Form der Partner*innenschaft.
Und dann hatte ich Sexualität immer nur im Kontext von Penetration kennengelernt. Wenn über Sex gesprochen worden war, war es immer penetrativer Sex gewesen, schließlich war der ja das große Geschenk an den Ehepartnermenschen und dazu da, Kinder zu bekommen. Und wenn ich eines früh gewusst habe, ohne überhaupt irgendetwas vom asexuellen Spektrum zu wissen, dann war es, dass ich daran kein Interesse hatte. Weil aber alle Formen von (nicht-platonischer) Zärtlichkeit immer eine Zugkraft in Richtung penetrativem Sex hatten – oder so wurde es mir zumindest beigebracht: Menschen die Zärtlichkeiten austauschten, wollten immer mehr und am Ende wollten sie (penetrativen) Sex miteinander haben.
Erst in der A*spec-Community kam ich zu einer differenzierteren Auseinandersetzung mit Sexualität und schließlich zu einem Verständnis, in dem unterschiedliche Formen von Zärtlichkeit und sexueller Interaktion möglich waren, ohne über die Zeit automatisch zu penetrativem Sex zu führen.

Dafür stand ich dann plötzlich auch vor der Erkenntnis, dass ich einer sexuellen Beziehung unter anderen Umständen nicht abgeneigt gewesen wäre – zumindest wenn ich von dem ganzen Drama absehe, das da im schlimmsten Fall wohl rausgekommen wäre. Also ist es vielleicht schon fast gut, dass da bei uns beiden genügend Barrieren da waren. Die Frage, ob ich wirklich so etwas wie sexuelle Anziehung empfinde, hat mich aber noch eine ganze Weile umgetrieben. Das war nach wie vor nicht so leicht festzulegen, aber nachdem ich begann die Sache differenzierter zu betrachten und den ersten Trauerprozess, um unsere damalige Freund*innenschaft (wir haben noch Kontakt, sind aber aus unterschiedlichen und teilweise wohl offensichtlichen Gründen nicht mehr so gut befreundet wie früher) durchlaufen hatte, häuften sich die Indizien an anderen Stellen. Zwar dauerte es auch diesmal etwas ehe meine Narrative wieder wirklich für mich funktionierten, aber am Ende war der Graubereich doch der richtigere Ort für mich.
Und der treffendere Begriff. 
Es hat eine Weile gebraucht, um ihn zu finden.
Aber aromantisch und grausexuell beschreibt mich bislang ganz gut.
Und sollte es sich doch noch einmal ändern:
Mit dem neue Narrative schreiben, habe ich ja inzwischen einiges an Erfahrung.                          

~ Finn