Freund*innenschaften – Netze und Narrative

Freund*innenschaft.
Auf die eine oder andere Art und Weise hatte ich immer schon ein recht differenziertes Verhältnis zu diesem Begriff. Es ist ein Wort, mit dem die meisten Menschen wohl irgendetwas anfangen können und doch kann er sehr unklar sein. Eine kurze Suche im Internet spiegelt da einerseits die Definitionsschwierigkeiten wieder, zeigt mir andererseits auch, dass Freund*innenschaften dann doch eher eng gedacht werden. Zum Beispiel kommt immer wieder der Verweis auf Aristoteles auf, der Freund*innenschaft als „eine Seele in zwei Körpern“ beschrieben hat und es ist die Rede von gegenseitigem Vertrauen und Verbundenheitsgefühl unter zwei oder mehr Personen. Eine andere Seite erzählt mir von den Merkmalen „wahrer Freund*innen“, während eine andere versucht mit Unterkategorien oder durch das Messen der in die jeweilige Beziehung investierten Zeit Ordnung in die große Freund*innenschafts-Schublade zu bringen und auf Instagram stolpere ich immer wieder über ähnliche Narrative zum Thema.

Heute merke ich, dass ich mit diesen Definitionsversuchen, Narrativen und Bewertungen in Bezug auf Freund*innenschaft nicht mehr ganz so zufrieden bin, aber früher hatte ich selbst ein eher engeres Bild davon, was Freund*innenschaft eigentlich bedeutet. Der Begriff war mir zu unklar und zu weit. Das habe ich damit gelöst, dass ich verschiedene Unterkategorien eingeführt habe, um die Menschen in meinem Kopf zu sortieren und mit der Bezeichnung Freund*in sehr selektiv umgegangen bin. Dass gelegentlich Menschen von Außenstehenden als meine Freund*innen bezeichnet wurde, obwohl wir in meinen Augen nicht „wirklich“ befreundet waren, hat mich immer wieder ein wenig geärgert. Das was ich als Freund*innenschaft bezeichnete beruhte schließlich auf einer ausgewogenen Beziehung, gegenseitigem Vertrauen und eben auch einer gewissen Verbundenheit, die ich der betreffenden Person gegenüber verspürte und nicht darauf, wie oft ich mit einer Person zusammensaß oder mich mit ihr unterhielt. Ja, mit manchen Personen wäre ich vielleicht auch gern befreundet gewesen, aber gerade Vertrauen aufzubauen, war für mich nicht unbedingt einfach und es wäre falsch zu behaupten,  dass manche zwischenmenschlichen Beziehungen nicht auch daran gescheitert wären.
Damals hätte ich das vielleicht nicht so gesehen, aber inzwischen fällt mir auf, dass mein Standpunkt den Narrativen, die ich heute im Internet finde oder den Statements, die mir immer wieder auf Instagram begegnen, gar nicht so fremd war. Wahre Freund*innen sind diejenigen, die auch da sind, wenn es schwierig ist, will mich ein Post wissen lassen. Davon bräuchte man dann auch nicht so viele. Enge Freund*innen, mit denen man stundenlang reden kann, sind wertvoller als solche, mit denen ich mich alle paar Monate mal öfters mal weniger oft auf einen Tee oder für Brettspiele treffe, während ich mit ihnen über interessante aber am Ende des Tages doch belanglose Dinge quatsche, die manche Zuhörer*innen vielleicht als oberflächlich beurteilen würden. Ein Artikel geht noch weiter und berichtet mir, dass Freund*innenschaften, in denen ich und die andere Person uns gegenseitig nicht vermissen, welche sind, die beendet werden sollten. Es soll besser sein, das in so einem Fall anzusprechen und den Kontakt einvernehmlich zu beenden. Und da sitze ich, vermisse ehrlich gesagt, überhaupt ganz selten irgendjemanden – also um genau zu sein fast nie – und kann über den Artikel nur den Kopf schütteln. Klar, das kann ein Indikator sein, wenn eine Freund*innenschaft nicht mehr bereichernd oder sonst wie zuträglich für das eigene Leben ist, aber es könnte für sich genommen auch einfach nur bedeuten, dass ich mich sehr selten so von einer Person distanziert fühle, dass sie außerhalb meiner Reichweite wäre und ich sie vermissen müsste? Es gibt natürlich Ausnahmefälle und andere Situationen, wo Freund*innenschaften sich verändert haben, ich den Zustand von „vorher“ vermisst habe und erst einmal mit der Veränderung umgehen musste. Aber das scheint mir hier auch nicht das zu sein, was gemeint ist. Ein weiterer Beitrag zum Thema Freund*innenschaften sortiert manche meiner Freund*innen als so betitelte lose Bekanntschaften ein.

Mit dieser manchmal gefühlt allgegenwärtigen Hierarchisierung von Freund*innenschaften kann ich mittlerweile nicht mehr so viel anfangen. Immer wieder bemerke ich, dass ich etablierten Narrativen zu Freund*innenschaften und den damit verbundenen Bewertungen kritisch gegenüber stehe.
Dennoch: Die Frage, was ein*e echte*r oder wahre*r Freund*in eigentlich ist, scheint viele Menschen zu beschäftigen. Oder jedenfalls finde ich dazu jede Menge Artikel und immer wieder Beiträge auf Social Media. Und immer wieder frage ich mich, ob die Anforderungen an wahre Freund*innen überhaupt realistisch sind. Klar freue ich mich über eine enge Beziehung, die auf großem Vertrauen beruht und in der ich persönliche Sachen mit einer Person teile und sie mit mir. Aber in manchen Fällen freue ich mich auch einfach, die Person zu sein, der sich jemand anvertraut und zu unterstützen, soweit ich es gerade kann und möchte. Kein Grund, mir etwas Gleichwertiges zurückzugeben. Ich habe Personen, die mich unterstützen werden, wenn ich es brauche. Kein Zwang das noch von dieser Person auch zu bekommen, weil ich gerade oder auch öfters etwas für sie getan habe. Auch bin ich vielleicht über den Punkt hinaus, wo diese Person eine auch nur in irgendeiner Form ähnliche Rolle für mich einnehmen könnte. Das hat ein anderer Mensch längst getan und hat wenig bis keinen Platz in der aktuellen zwischenmenschlichen Beziehung.
Inzwischen empfinde ich den Begriff Freund*innenschaft immer öfters als zu eng gedacht. Fast schon ein wenig lustig, wenn man bedenkt, dass ich das vor einigen Jahren noch ganz anders gesehen hätte. Ich denke nicht mehr, dass die Person, mit der ich lange telefoniere oder der ich komplexere Themen aus meinem Leben anvertraue, in irgendeiner Art wertvoller ist, als die Person, mit der ich mich ab und an zum Teetrinken treffe. Um ehrlich zu sein, sehe ich nicht einmal einen Grund, mich der zweiten Person auf dieselbe Weise zu öffnen wie der ersten. Und trotzdem gehe ich zufrieden vom Teetrinken oder Brettspielen weg, vielleicht mit einem neuen Gedanken oder einfach entspannt. So gerne ich mich über unterschiedliche Dinge austausche und so breit mein Interessensgebiet ist, manchmal brauche ich vielleicht auch einfach den Spaß im Escape Room oder beim Laser Tag – keine der Personen in meiner Escape-Room-Gruppe gehört zu denen, die ich im Ernstfall zuerst um Unterstützung bitten würde oder von denen ich erwarten würde, dass ich mich auf sie verlassen kann, sollte ich einen Menschen für etwas brauchen. Diesen Zweck erfüllen sie einfach nicht für mich. Sollte ich sie deshalb nicht als Freund*innen bezeichnen? Es mag nicht dieselbe Form von Freund*innenschaft sein, aber auch wenn manche Menschen, zumindest einen Teil von ihnen eher zu Bekanntschaften ordnen würden, bin ich doch gerne dabei, wann immer wir einen gemeinsamen Termin finden.

Ich denke meine Freund*innenschaften oder eigentlich generell zwischenmenschliche Beziehungen inzwischen lieber als Netzwerk. Jede Person kann etwas anderes dazu beitragen und manchmal sind auch zufällige Begegnungen und Gespräche welche, aus denen ich mir etwas mitnehmen kann, ganz ohne etwas total Persönliches zu erzählen. Hauptsache wir reden nicht über Belanglosigkeiten sondern über etwas halbwegs Interessantes. Menschen, mit denen ich regelmäßig etwas gemeinsam unternehme oder zusammenarbeite, gehören genauso zu diesem Netzwerk von Kontakten und Verbindungen wie Personen, denen ich nur ein einziges Mal zufällig begegnet bin und einen kurzen Austausch erlebt oder auch nur einen einzelnen Gedanken oder eine neue Idee mitgenommen habe.
Und wenn es dann um Leute geht, die ich besser kenne, möchte ich da eigentlich auch nicht unbedingt eine Hierarchie unter ihnen aufmachen. Klar könnte ich die Situation konstruieren, in der zwei Personen gleichzeitig etwas von mir brauchen und es für beide Fälle absolut fatal wäre, eine der beiden nach vorne zu ordnen. Und ja, in der Situation gäbe es vermutlich eine Person, die ich priorisieren müsste und würde. Aber am Ende bleibt so ein Entscheidungsmoment ein Konstrukt – zumindest wenn man von diversen Freund*innenschaftsdramen und Streitereien in meiner Schulzeit mal absieht, aber da werden sie von Personen herbeigeführt und das ist, finde ich, ein anderes Thema. Wenn ich mich zum Tee trinken verabredet habe, muss eben auch eine regelmäßigere und „engere“ Freund*innenschaft einmal warten. Außer es ist ein Notfall und wirklich wichtig. Und wenn ich weiß, dass ich an einem Abend mit einer befreundeten Person spazieren gehe und wir uns lange unterhalten werden, plane ich da keinen Abend im Café-Haus ein. Wenn ich einen Anruf von einer Person bekomme, der es nicht gut geht und die mir etwas erzählen muss, die ich aber selbst in so einem Fall nicht anrufen würde (übrigens noch eine Beziehung, die ich laut manchen Artikeln lieber beenden sollte), hebe ich ab, solange ich die Energie dazu habe und mir Zeit dafür nehmen kann und möchte. Aber das entscheide ich je nach Situation. Und wenn ich selbst jemanden brauche, dann wende ich mich an ganz andere Personen, je nach Thema und je nachdem, was ich gerade benötige.

Die Beziehungen in meinem Netzwerk sind unterschiedlich und facettenreich. Bunt, unausgewogen, ausgewogen, gekennzeichnet durch unterschiedliche Bedürfnisse, unterschiedliche Grenzen, verschiedene Formen von Verbindungen und unterschiedlicher Menge an Vertrauen und Verbindlichkeit. Es gibt Engere und weniger Enge. Dann wieder solche, die nur Begegnungen sind und wo keine weitere Beziehung daraus folgt. Aus allen diesen Verbindungen und Vernetzungen, Gesprächen und kurzen Wortwechseln kann ich mir ab und an etwas mitnehmen und sie alle sind für mein Leben bereichernd. Wenn sie nicht mehr bereichernd sind, ändert das natürlich etwas für mich. Dann verändern sich die Fäden und Linien im Netzwerk. Das tun sie ohnehin immer wieder. Ich begegne schließlich auch neuen Menschen. Manche bleiben eine einzige Begegnung und andere bekommen außerhalb dieses einzelnen Ereignisses einen Platz darin. Ich sehe nicht, warum eine Person für mich intrinsisch wertvoller oder wichtiger sein sollte als eine andere, allein aufgrund der Tatsache wie genau sich die jeweilige zwischenmenschliche Beziehung gestaltet. Für mich können unterschiedliche Beziehungen, unterschiedliche Werte haben und der eine ist nicht automatisch höher als der andere, bloß weil die Freund*innenschaft einem bestimmten Narrativ entspricht.
Es gibt noch viele andere Narrative für Freund*innenschaft:
Ein Wort, das ich inzwischen auch viel lockerer verwende, um anzuzeigen, dass der Platz einer Person in meinem Netzwerk über zufällige, ungeplante und/oder unregelmäßige Begegnungen hinausgeht und als positiv empfunden wird.

~ Finn