Wir sitzen einander gegenüber auf meinem alten grünen Sofa, Teetassen in den Händen, Taschentücher auf dem Beistelltisch vor uns. Eines davon hast du zerknüllt in deiner Hand, deine Augen rot, deine Nase geschwollen.
“Wie kann er nur…” beginnst du schluchzend, und ich weiß genau, wie dieser Satz weitergehen wird. Ich habe ihn schon so oft gehört; von dir und von anderen befreundeten Menschen, in so vielen Variationen, die doch alle dasselbe bedeuten. “…so einfach verschwinden und sich gar nicht mehr melden?”
Ah, okay, die Ghosting-Variante. Du schluchzt – und ich bin im Zwiespalt. Einerseits sind wir befreundet und ich möchte dich in deinem Leid unterstützen und auffangen – andererseits verstehe ich nicht, wie eine “Beziehung”, die vielleicht 10, 15 Stunden gemeinsam verbrachte Zeit beinhaltet hat, solche intensiven Verlustgefühle auslösen kann. Aber es ist akzeptiert, dass das so ist und dass meine Rolle als befreundeter Mensch ist, dich zu trösten. Dich in den Arm zu nehmen, zu sagen “Vergiss ihn, er ist es nicht wert”, und dann Eis zu essen und schlechte Filme zu schauen – egal, ob die romantische Beziehung, die zu Ende ist, 10 Stunden oder 10 Jahre gedauert hat.
Für das Ende einer Freundschaft gibt es keine Vorlage. Vor einiger Zeit habe ich einen meiner engsten Freunde verloren. Ich habe ihm offiziell die Freundschaft gekündigt und gesagt, dass ich keinen Kontakt mehr wünsche. Es gab für mich keine Schulter zum Ausheulen, keine schlechten Filme, und keine Menschen, mit denen ich darüber sprechen konnte und die verstehen, warum es schmerzt.
Unsere Kultur hat schlicht kein Skript dafür. Filme über Romantik, übers Verlieben, und auch über das Auseinandergehen von romantischen Beziehungen und den damit verknüpften Schmerz gibt es wie Sand am Meer. Zum Ende einer Freundschaft haben weder Netflix noch Thalia etwas im Angebot. Vielleicht hat man im Arthouse-Kino oder dem Independent Bookstore Glück, aber dann müssen aber auch alle Sterne richtig stehen.
Liebe gibt es auf den ersten Blick und an romantischen Beziehungen muss man arbeiten – Freundschaft “ist” halt einfach. Wir haben es als Kultur nicht auf dem Schirm, dass sie aufhören kann und dass das schmerzhaft sein kann. Im besten Fall versteht es jemand; im schlimmsten Fall muss man sich noch anhören “naja, ihr wart ja nicht zusammen oder so”. Jedenfalls ist es nicht akzeptabel, einer langjährigen Freundschaft so hinterher zu trauern wie einer kurzlebigen “romantischen” Beziehung.
“Vergiss ihn,” sage ich, “er ist es nicht wert”, und du lehnst dankend deinen Kopf an meine Schulter. Und wie so oft denke ich: Das war nicht das erste Mal, dass eins meiner Freundys dies von mir hört, und es wird wohl auch nicht das letzte sein. Und dass keins von euch so richtig checkt, wie lange es gebraucht hat, diese Freund:innenschaften – die in euren Köpfen meistens das Wort “nur” vorangestellt bekommen – aufzubauen. Oder, wenn ihr es versteht, stellt ihr nicht in Frage, dass die Beziehung, die für euch mindestens ein, wenn nicht zehn, Level über Freundschaft steht, im Null Komma Nichts entstehen soll.
Ich streiche dir übers Haar und rufe Netflix auf meinem Computer auf. Wenn du mal wieder eine deiner “ich bleib für immer Single!!!!”-Phasen hast, denke ich, während du durch die Bollywood-Kategorie scrollst, vielleicht oute ich mich dann auch endlich vor dir.
~ Lin