Sanft schaukelt das riesige Schiff heute über das schier endlose Meer. Ein Lichtfleck inmitten von dunklen Wellen und einem sternenübersäten Nachthimmel. Kein Land am Horizont, kein anderes Schiff, nur dieses und der weite Ozean.
Ich bin gleichzeitig ganz klein auf dieser Nussschale, die eigentlich ein großes Kreuzfahrtschiff ist und ganz groß, als einer von wenigen Menschen auf diesem Schiff in ansonsten menschenleerer Weite. Paradox, nicht wahr?
Neben mir steht Phee, meine Schwester und blickt in die andere Richtung. In Richtung der anderen Menschen auf dieser weißen Nussschale, die eigentlich so gar nichts von einer Nussschale hat.
Hinter mir, so ziemlich in der Schiffsmitte auf dem Fußballfeld spielen gerade Crew-Mitglieder. Vermutlich haben sie gerade Feierabend oder Pause.
Ich möchte auch Fußballspielen… Dieser Urlaub heißt nämlich auch Trainingspause. Und während ich eine andere Person brauche um mich zum Training zu schleppen – ein Hoch auf Phee, mag ich nicht, wenn mein Grund mich auszupowern nicht mehr da ist. Hatten wir das Thema Paradoxe, nicht schon?
„Wollen wir hin gehen?“, frage ich während ich mich vom Wasser abwende.
„Mhm, vielleicht können wir mitspielen?“, antwortet Phee.
Wir schlendern auf die Rufe in verschiedenen Sprachen zu. Mensch könnte meinen, der Wind, der durch mein kurzärmeliges Trikot fährt, müsste mich zum frösteln bringen, aber nein. Es war angenehm kühl, nach einem wieder viel zu heißen Tag mit Sightseeing.
Awkward. Das ist das einzige Wort mit dem beschrieben werden kann, wie wir in der Nähe des Fußballfeldes stehen, leise miteinander reden und gleichzeitig den Spielenden zuschauen.
Ich möchte mitspielen. Aber was, wenn ich mich blamiere? Und dann noch vor Leuten, die auf diesem Schiff arbeiten…
„Do you wanna join?“
Mehrere Crewmitglieder schauen uns an, als wir uns in Richtung der Stimme wenden. Oje, eigentlich will ich schon, aber es hält mich auch so viel zurück. Nicht aber Phee. Sie war schon immer mutiger und kümmert sich weniger darum, was andere denken könnten.
„Los, komm.“ Und schon sind wir auf dem kleinen Feld, das von Netzen umgeben ist, fast wie ein Käfig, aus dem kein Ball entkommen und in den Wellen verschwinden kann.
Es macht Spaß, aber ist auch komisch. Hier mit unbekannten Leuten zu spielen. Nicht weil mein Englisch zwischendurch aufgibt. Einfach weil ich die Menschen nicht kenne.
Irgendwann verlassen wir den Platz und setzen uns auf ein paar Bänke ganz in der Nähe. Ich weiß nicht wie es passiert, aber irgendwann sitzt Phee mit einem Crewman etwas abseits, während ein anderer sich mit mir unterhält. Ich mein, er scheint nett zu sein. Wir unterhalten uns darüber wo wir jeweils herkommen, wie lang er schon auf dem Schiff ist und seit wann ich Fußball spielen. Hab ich jetzt endlich eine Bekanntschaft auf dem Schiff gemacht?
In dem Moment realisier ich, dass er sich zu mir beugt. Will er…? Ja, er will mich küssen! Was mach ich jetzt? Darauf bin ich nicht vorbereitet? Will ich das? Woher soll ich das wissen?
Ich dreh meinen Kopf zur Seite und weiche seitlich aus. Keine Ahnung, was sein Gesichtsausdruck in dem Moment sagt. Das kann ich beim besten Willen nicht sagen. Mein Gedankenchaos ist gerade viel zu chaos-ig. Und wie soll ich mich jetzt überhaupt verhalten?
Und bin ich gerade so nervös, überfordert und aufgeregt gleichzeitig, weil die Situation einfach zu viel ist oder sind da andere Gefühle im Spiel? Ist das, das wovon alle immer reden? Es kommt dem zumindest am nächsten. Also muss es das wohl sein?
Er überspielt die unangenehme Situation und unterhält sich weiter mit mir, als wär nichts passiert. Ich weißt nicht ob Phee gemerkt hat, dass ich mich unwohl fühle oder selbst gehen will, aber kurz darauf kommt sie herüber und meint: „Mephi? Ich bin müde, lass uns auf’s Zimmer gehen.“
Ich nicke, verzieh die Mundwinkel zu einem Lächeln in Richtung der Person, die mich eben küssen wollte und steh auf um mit Phee zur Treppe unter Deck zu gehen.
Ob er gedacht hatte, ich flirte mit ihm? Dabei haben wir uns doch nur normal unterhalten? Oder nicht?
Ich lehne mich in meinem Schaukelstuhl zurück, das Fotoalbum der Kreuzfahrt aufgeschlagen auf meinem Schoß.
Wenn ich jetzt auf die Situation schaue, Jahre später, ist mir klar, dass ich damals nicht verliebt war. Ich war einfach überfordert. All das reden, dass alle sich verlieben würden, hat mich bei jeder männlich gelesenen Person, mit der ich mich verstand, automatisch darüber nach grübeln lassen ob es jetzt soweit war. Ich hab’s gleichzeitig herbeigesehnt, weil ich so spät dran war, hatte aber auch Angst davor.
Hätte ich auf diesem Schiff schon gewusst, dass ich aromantisch bin… Vielleicht hätte ich mich gar nicht in die Situation gebracht, vielleicht hätte ich anders reagiert. Vielleicht wäre mir viel Grübeln, Zweifeln und Missinterpretation erspart geblieben.
Mit Sicherheit hätte ich mir erspart, mir unbewusst einzureden, dass es Verliebtheit sei. Ich hätte diesen versehentlichen Urlaubsflirt sicherlich als genau das gesehen. Es hätte andere Sachen gegeben, die mich beschäftigt hätten, wie das fehlende Konsenteinholen oder die Annahme ich würde amatonormativen Vorstellungen entsprechen, aber diese Unsicherheit und das mich selbst in Frage stellen wären mir wohl an der Stelle erspart geblieben.
Hätte nur irgendwer einmal erwähnt, dass es Aromantik gibt… Ich streiche unbewusst über den weißen Ring an meinem linken Mittelfinger.
„Heute werde ich Aromantik erwähnen!“, denke ich entschlossen während ich das Fotoalbum beiseite lege und meinen Tee austrinke, der mittlerweile kalt geworden war. Auf dem Weg zur Haustür greife ich mir meinen Rucksack, vollgepackt mit Materialien für den Vortrag zum Thema Aromantik, den ich gleich halten würde.
~ Delfin