Brief an die Amatonormativität: Ich bewundere deine Kreativität

Letztes Jahr in der Aro*spec Week haben wir dazu aufgerufen, Briefe an die Amatonormativität zu schreiben (https://aromantik.de/arospecweek-2024-briefe-an-die-amatonormativitaet). Hier kommt einer von Finn.

Content Notes: Amatonormativität, konservative christliche Sexualethik, Beziehungsrolltreppe/Relationship Escalator, Zukunftsängste, Cis-Heteronormativität (Erwähnung), Mononormativität (Erwähnung), Allonormativität (Erwähnung)

Liebe Amatonormativität,

es tut mir Leid, dass ich nie auf einen deiner Briefe geantwortet habe. Ich habe sie alle erhalten und auch wenn ich entschieden habe, mein Leben nicht an deine Ratschläge anzupassen, war deine Briefe zu ignorieren, bestimmt nicht die beste Reaktion. Um ehrlich zu sein, wusste ich lange Zeit nicht, wie ich mit ihnen umgehen soll.

An dieser Stelle möchte ich, deine Geduld und Kreativität loben. Es muss schmerzhaft gewesen sein, zu sehen, wie ich so tue, als hätte ich deine Briefe niemals erhalten oder gelesen. Und dennoch hast du mir über all die Jahre (und das sind ja jetzt schon fast 28) immer wieder und wieder welche geschickt. Ich weiß nicht, ob ich diese Geduld mit einem anderen Menschen hätte aufbringen können. Und wie unterschiedlich deine Briefe waren! Mal habe ich einen von meiner Familie oder Verwandten überreicht bekommen, mal von Freund*innen, dann wieder auf der Uni, auf der Arbeit oder einfach zufällig, von einer Person, die ich gerade getroffen habe. In der Kirche hast du sie mir hinterlegt, oder bei KISI. Das eine Mal, als eine Dozentin im dritten oder vierten Semester nach dem Prüfungsgespräch, in dem Liebe und Partner*innenschaften angesprochen wurde, zu mir sagte, dass sie mir schon  eine Therapie empfehlen würde, einfach um herauszufinden, was da bei mir los ist, fand ich besonders kreativ. Sie war freundlich und hat es überhaupt nicht böse gemeint. Ich habe den Ratschlag nicht angenommen und nie wirklich darauf reagiert, aber der Brief ist angekommen. Ein anderes Mal hast du klarere Worte gewählt, auf der Arbeit, als eine Kollegin zu mir gesagt hat, dass Menschen, die nicht romantisch lieben, niemals selbst Liebe erfahren hätten und Sexualität die nicht mit Romantik verbunden ist, automatisch egoistisch wäre. Im Übrigen war es keine gute Idee, mir so oft zu schreiben, dass Sexualität mit romantischer Beziehung verknüpft sein müsse. Das hat nicht dazu geführt, dass ich romantische Beziehungen möchte, sondern dazu, dass meine Romance-Repulsion sich auf Sex-Repulsion ausgedehnt hat. Aber das hast du dann sicher auch gemerkt. Besonders hervorheben möchte ich hier außerdem das Booklet ‚All you need is love. Tipps und Richtlinien zu Liebe und Beziehung‘, dass du gemeinsam mit deinen Freund*innen Cis-Heteronormativität, Allonormativität, Mononormativität und einer bestimmten konservativen Interpretation christlicher Sexualethik verfasst hast. Ihr habt euch da echt Mühe gegeben, mir euer gemeinsames Lebensmodell schmackhaft zu machen und seine Vorzüge zu präsentieren. Das muss richtig aufwendig gewesen sein. Ihr habt euch gewünscht, dass ich endlich verstehe, was ihr mir sagen möchtet und ich habe mir das Heft zwar in den Kasten gestellt, aber nie die Anstalt gemacht, eure Ratschläge in die Tat umzusetzen. Von allen Gemeinschaftsprojekten, die du mit einigen deiner Freund*innen gemacht hast, um mich zu erreichen, war das sicher das größte. Aber du kannst nicht nur groß, laut und deutlich. Das eine Mal, als ich mit J. abends nach dem Programm eine Runde spazieren war und sie mich gefragt hat, ob zwischen mir und einer Person was läuft. Der Moment der Überraschung in ihren Augen, als ich ein paar Sätze später gesagt habe, dass ich mit 19 Jahren immer noch hinter dem Satz stehe, den ich mit 14 gesagt habe: „Ich brauche keinen Freund. Ich habe genügend eigene Probleme.“, das war leise und subtil. Sie hatte sich schnell wieder im Griff, aber der Brief ist angekommen, auch wenn ich zu dem Zeitpunkt nicht weiter darauf eingegangen bin. Oder auch bei der Arbeit im Archiv, als eine Person einfach meinte, ich würde ja bald aus meiner Geschwister-WG ausziehen, weil ich dann bestimmt mit einem Partner zusammenziehen würde – ein weiterer Gemeinschaftsbrief mit deiner Freundin Cis-Heteronormativität.
Aber nicht nur die Art wie du mir deine Briefe zukommen hast lassen war kreativ! Als du bemerkt hast, dass ich manche Grundannahmen nicht mehr teile, hast du entschieden, weniger mit deinen Freund*innen zusammenzuarbeiten, oder nicht immer mit allen von ihnen gleichzeitig. Das finde ich großartig! Du hast mir verschiedene Beziehungskonzepte gezeigt, die mehr oder weniger von der Beziehungsrolltreppe abweichen, um das Angebot zu erweitern. Homoromantische Beziehungen, Variationen innerhalb der typischen mono-romantischen Paarbeziehung, romantische Polybeziehungen, Beziehungen ohne Kinder, romantische Freund*innenschaften und so vieles mehr. Du hast mir gezeigt, was für mich und andere Menschen alles möglich sein kann, wenn du nicht mit deinen Freund*innen zusammenarbeitest. So viele großartige Ideen! Du bist beim Überlegen, was du mir anbieten kannst, so richtig über dich hinausgewachsen. Und jetzt wo du diese Ideen schon einmal hast, kannst du sicher noch viel mehr Leuten als vorher ein für sie passendes Lebens- und Beziehungsmodell anbieten!
Ich bewundere dich wirklich für deine Unmengen an Kreativität und es tut mir Leid, dass ich sie so lange ignoriert habe, anstatt das auszudrücken.

Ich muss aber zugeben, dass ich nicht ganz verstehe, warum du dir nach so langer Zeit immer noch die Mühe machst, mir diese Briefe zu schreiben? Ich meine, ich habe nie die Anstalt gemacht, deinen Ratschlägen zu folgen. Ich habe dich ignoriert und nach außen hin meist so getan, als hätte ich sie nicht gelesen. Und doch schreibst du mir regelmäßig deine Briefe. Ich muss dir echt wichtig sein, oder?
Machst du dir Sorgen um mich? Fragst du dich, was in einigen Jahrzehnten mit mir passieren wird, wenn ich nicht ein romantisches Beziehungsmodell für mich wähle? Fragst du dich, ob ich nicht richtig abgesichert oder im Alter einsam sein werde? Das könnte ich verstehen. Diese Sorgen mache ich mir an manchen Tagen selbst. Oft habe ich Angst, dass ich es nicht schaffe, mir Beziehungsnetzwerke zu bauen, die ausreichen, weil Menschen oft so sehr den Fokus auf romantische (Paar-)Beziehungen legen. Dass meine zwischenmenschlichen Beziehungen oder nicht-romantische Patner*innenschaften nicht gut genug sind, weil sie nicht in Romantik begründet sind und ich nicht weiß, wie romantische Anziehung oder Verliebtheit sich anfühlen. Ich frage mich, ob ich es noch bereuen werde, von der Beziehungsrolltreppe gesprungen zu sein und besonders den romantischen Part ignoriert zu haben. Und ich kann mir vorstellen, dass es dir genauso geht, wenn du mich siehst. Du willst mich nicht vor Verlustschmerz weinen sehen. Du willst, dass ich in Sicherheit, nicht alleine und abgesichert bin. Vielleicht hast du dir deshalb all die Mühe gegeben, mir über die Tage, Wochen und Jahre deine Briefe zu schreiben. Wieder und wieder, obwohl ich nie darauf geantwortet habe.

Inzwischen ist einiges an Zeit vergangen, seit ich die ersten Briefe von dir bekommen habe. Anfangs dachte ich noch, dass ich mich sicher eines Tages ändern, romantische Anziehung kennenlernen und (eine) romantische Beziehung(en) führen wollen würde. Als sich über die Jahre nichts verändert hat und ich immer noch deine Briefe bekommen habe, dachte ich, ich wäre die Person, an der es scheitert. Ich dachte, es wäre etwas falsch mit mir, als wäre ich kaputt, einfach nicht richtig. Da waren ja auch nirgendwo Menschen, bei denen ich entsprechende Lebensmodelle hätte sehen können. Wenn überhaupt waren da Menschen, die sagten, dass sie auf ‚die romantische Paarbeziehung verzichten‘, als wäre es ein Opfer, das sie bringen. Von nicht-romantischen Beziehungsmodellen wusste ich überhaupt nichts und ich habe keine Menschen gesehen, die sie leben.
Aber wenn ich eines von dir gelernt habe, dann ist es kreativ zu sein. Ja, ich mache mir manchmal Sorgen. Ich habe Angst. Aber ich werde (m)einen Weg finden und mir mein eigenes Lebensmodell bauen. Ich bin inzwischen Menschen begegnet, die ähnlich empfinden wie ich. Von ihnen habe ich einige Konzepte und Ideen mitgenommen aber auch aus meinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen. Romantische Anziehung und der Wunsch nach romantischen Beziehungen gehören nicht zu meinem Leben und das ist auch okay so. Ich kann mir ein Beziehungsnetzwerk ohne sie bauen, mit engeren und weniger engen Verbindungen, Sicherheitsnetzen und möglichst guter Kommunikation. Aus Freund*innenschaften, Bekanntschaften, nicht-romantischen Beziehungsformen und so vielem mehr. Und ja, ich habe Angst, aber ich bin auch unglaublich gespannt, wohin mein Weg mich noch führt.
Ich weiß es nicht, weil ich keine Vorlage habe, aber ich werde ihn bauen und finden, für mich, dich und alle Menschen, die mich sehen. Damit sich immer weniger Menschen in den Schlaf weinen müssen, weil sie sich falsch und kaputt fühlen. Damit sie wissen, dass ihr Erleben okay, und ihre Bedürfnisse in Ordnung sind, weil sie andere Lebensmodelle kennen und sehen, dass sie andere Möglichkeiten haben als (eine) romantische Beziehung(en). Kreativität wird mehr, wenn sie verwendet wird. Das weißt du sicher auch. Und ich hoffe, dass du mir genau zusiehst und verstehst, dass ich das auch für mich tue. Ich weiß nicht, wohin mein Weg mich führt, aber romantische Beziehungen sind nicht das Konzept, das mich glücklich machen wird. Und nachdem dir mein Wohlbefinden am Herzen liegt, hoffe ich, dass du das verstehst.

Ich möchte mich noch einmal bedanken, dass du dich so sehr um mich sorgst. Ich bin dir so wichtig, dass du mir über Jahre immer wieder diese Briefe hast zukommen lassen und ich habe über die Zeit richtig viel daraus gelernt.
Kreativität in einer Welt, die eigentlich kein passendes Konzept für einen Menschen wie mich vorgesehen hat. Das ist die wichtigste Lektion, die ich von dir und deinen Freund*innen gelernt habe. Danke dafür!
Jetzt schau du bitte mir zu.
Sieh genau zu, wie ich mein Leben lebe.
Ich weiß, du wirst mir vermutlich weiterhin deine Briefe schicken. Ich werde sie alle lesen und mich bemühen, sie nicht unbeantwortet zu lassen. Vielleicht brauche ich manchmal ein wenig, um dir zu antworten, aber hoffentlich nicht so lange wie diesmal, wo sich schon so viele Briefe von dir angesammelt haben.

Hier aber erst einmal die Antwort auf alle deine bisherigen Briefe.
Vielen Dank, dass du dich um mich sorgst.
Bitte schau mir auch weiterhin zu.

Danke für Alles!
Finn
(keine Pronomen)

~ Finn