Gefangen zwischen Wünschen und Ängsten

CN: Binäre Geschlechterordnung, Misgendering, Diskussion ums Gendern, Bodynegativity, internalisiertes Bodyshaming (gegen den eigenen Körper gerichtetes Fatshaming), Soziale Ängste und Unsicherheit

Diesen Text zu schreiben fällt mir gerade alles andere als leicht. Er entsteht aus Nachrichten, die ich vor ein paar Tagen meinem besten Freund geschrieben habe, als in mir wieder einmal das totale Chaos herrschte. Ich weiß zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht einmal, ob der Text bei AktivAro landen wird und schreibe ihn deshalb mehr für mich, um mir einfach einmal alles von der Seele zu schreiben.

Dieser Text wird von vielem Gemecker, verschiedenster Wünsche und Ängste handeln. Oder anders gesagt: Von Gedanken, die mich beschäftigen. Dabei möchte ich direkt sagen, dass nicht jede Person alle Gedanken teilen wird, und das ist auch nicht mein Ziel. Wie schon gesagt möchte ich mir meine Gedanken von der Seele schreiben. Dann fange ich damit an:

Thema 1: Geschlechtsidentität
Das ist ein permanentes Auf und Ab in mir. Die allermeiste Zeit ist es mir absolut egal, wie Menschen mich sehen. Welche Label sie nutzen, wie sie mich ansprechen, wie sie mich bezeichnen. Doch dann gibt es Tage, an denen es mich tierisch ankotzt, wenn es passiert. Wenn Sätze wie „Ich bin Ingenieur“ mit „Ingenieurin“ korrigiert werden, korrigiere ich das sofort wieder. Wenn Menschen sehr oft hintereinander die weibliche Anrede nutzen, sodass es mir störend auffällt, beiße ich ebenfalls die Zähne zusammen. Wenn andere Sätze wie „Du bist eben eine Frau“ bringen, widerspreche ich mittlerweile standardmäßig mit einem ‚Nein‘, allerdings ohne es weiter zu erklären, denn ich habe keinen Grund dazu.

Ich halte mich selbst für zu unwichtig, um meine Wünsche mitzuteilen. „Es interessiert mich sowieso nur für ein paar Tage, weshalb sollte ich also widersprechen und um etwas bitten, das mir bald wieder egal ist“, sagt mein Kopf zu oft, und eben danach lebe ich. „Du bist zu unwichtig, um deine Wünsche mitzuteilen. Zu sehr liebst du es, unter den anderen zu verschwinden und nicht die Person sein zu müssen, über die sie sich Gedanken machen. Möchtest nicht die Person sein, die anders behandelt wird“ damit rechtfertige ich mich jedes Mal vor mir selbst.

Diese Gedanken sind keine Ausrede an mich selbst, es ist meine ehrliche Überzeugung. Ich möchte weder eine große Rolle spielen, noch möchte ich gesondert behandelt werden. Für mich ist die Welt in Ordnung, wenn ich einfach dazugehören kann. Und trotzdem ist auf der anderen Seite diese leise Stimme, die sich etwas wünscht. Es sind Wünsche, die mir die meisten Menschen nicht erfüllen werden. Wünsche, die anders sind als die anderer Menschen. Wünsche, bei denen viele Menschen denken würden, ich möchte einfach nur gegen alles rebellieren, aber das ist nicht mein Ziel. Ich bin eben anders.

Wenn ich mich trauen würde, würde ich darum bitten, mit einer festgelegten Mischung aus (Neo)Pronomen angesprochen zu werden, die abgewechselt werden soll. Ich würde darum bitten, nicht meinen Namen anstatt der Pronomen zu benutzen, da ich es absolut nicht mag, meinen eigenen Namen so oft zu hören. Ich würde darum bitten, die männliche Form für mich zu verwenden, da es sich für mich richtig anfühlt, mit „Ingenieur“ angesprochen zu werden. Um all das würde ich bitten, wenn ich es mit mir selbst vereinbaren könnte, andere Menschen darum zu bitten, mich anders zu behandeln. Und wenn ich den Mumm hätte zu sagen, dass ich Sachen anders sehe als andere Menschen.

Thema 2: Gendern mit Satz- und Sonderzeichen
Nein, ich habe nicht grundsätzlich etwas gegen das Sternchen, bin kein Gender-Gegner und habe auch nichts dagegen, wenn Menschen diese Art des Genderns nutzen wollen.

Mir stößt diese Art des Genderns sauer auf, was daran liegt, dass mein Partner LRS hat. Ich helfe ihm regelmäßig dabei, offizielle Mails und Texte zu verbessern, buchstabiere ihm Worte, entwirre seinen Kopfsalat, helfe ihm bei der Zeichensetzung und mache Texte für ihn verständlich. Wenn er Texte mit dieser Art des Genderns vor sich hat, kann er sie nicht lesen.

Ich persönlich werde stinksauer, wenn ihm Menschen sagen, dass er sich „nur daran gewöhnen muss“ oder dass „es nicht so schwer sei“. Es hat einen Grund, weshalb er das bei Ämtern angibt, mich amtliche Texte vorher lesen lässt und sich dafür so viel Zeit nimmt, um mir so wenig Arbeit wie möglich zu machen. Ich finde es einfach nicht fair, dass er so behandelt wird.

Aber das könnte ich niemals sagen, da die Angst davor, als „Gender-Gegner“ oder „Hater“ dazustehen so groß wäre, dass ich mich weigere, etwas zu sagen. In dem Punkt bin ich sehr froh, dass mein Partner sich allein verteidigen kann, wenn er so etwas abbekommt. Und trotzdem hasse ich mich dafür, dass ich mich nicht vor ihn stellen und ihn verteidigen kann, wenn es nötig ist. Dass meine Angst davor zu groß ist, danach gehasst zu werden. Dass mir der Mut dazu fehlt, die Person zu verteidigen, die ich liebe.

Ich finde es absolut richtig, dass alle Menschen in der Sprache mit eingeschlossen werden, nur bin ich für Alternativen, die meinem Partner nicht ganze Texte erschweren oder gar verwehren. Alternativen, die inklusive für jeden sind und die andere Minderheiten nicht ausschließen. Alternativen, die wirklich für jeden Menschen zugänglich sind und bei denen sich auch wirklich jeder Mensch mitgemeint fühlt.

Apropos mitgemeint, es stört mich nicht nur wegen meines Partners: Auch ich fühle mich bei dieser Form nicht mitgemeint. Ich bin mehr als ein Sternchen, Doppelpunkt, Unterstrich, etc.! Ich kann es nicht wirklich erklären, aber ich mag es einfach nicht, wenn andere Menschen mit dieser Form des Genderns über mich reden. Ich fühle mich dabei leider verarscht. Aber auch das könnte ich niemals offen sagen.

Thema 3: Wunschkleidung
Ich habe nicht sonderlich viel übrig für meinen Körper. Ich bin zu dick, hässlich und kann mich nirgendwo blicken lassen. Dazu kommt, dass ich Erfahrungen gemacht haben, die mich beispielsweise dazu gebracht haben, selbst im Sommer eine Jeanshose anzuhaben, da ich alles andere als unsicher ansehe. Eine lange Jeanshose, ein kurzes T-Shirt, anders geht es nicht. Es geht nicht kürzer, es geht nicht weiter. Alles muss eng anliegen, jedes Stückchen Stoff muss zu spüren sein.

Diese Kriterien machen die Wahl der Kleidung leider relativ leicht, wenn auch nicht unbedingt toll. Hier treffen mein Wunsch nach schöner Kleidung und meine zu erfüllenden Kriterien aneinander. Würde ich doch gerne einmal mit einem bauchfreien Shirt und einer Lederjacke herumlaufen, so könnte ich es niemals tun. Eine Maske als Accessoire tragen? Nein, definitiv nicht. Würde es doch zu vielen Menschen aufstoßen, die gegen das Tragen von Masken sind. Eine breitere Hose, die das Bild abrunden würde? Nein, denn die würde nicht eng genug anliegen. Eine Jacke mit Katzenohren auf der Mütze? Niedliche Vorstellung, aber würde ich dafür doch schräg angeschaut werden.

Meine Wunschkleidung entspricht eher der Anime- und Filmszene. Es ist Kleidung, die ich lediglich auf Conventions bewundern kann, wo ich sie aber selbst auch nie anziehen würde.

Meine Alternative besteht darin, mir immer wieder einfarbige T-Shirts und Hosen zu kaufen und zu hoffen, dass den Menschen in meinem Umfeld der unterschiedliche Schnitt auffällt, um nicht als ungepflegt zu gelten. Denn auch da ist die Angst davor groß, dass Menschen denken würden, ich würde mich nicht waschen oder gar nie umziehen. Zusätzlich kaufe ich oft genug dasselbe Kleidungsstück mehrfach, auch wenn dabei immer die Angst davor mitschwingt, dass Menschen mir dieses Detail nicht glauben könnten.

Thema 4: Binäre Kleidung
Der Grund dafür, aus dem ich mehrfach dasselbe kaufe, ist ganz einfach: Ich suche nach Schnitten, die einfach neutral aussehen. Es soll nicht zu viel Ausschnitt zeigen, soll eng anliegen und einfach nach einem T-Shirt aussehen. Erfüllt es diese Kriterien, wird es gekauft. Mehr Anspruch habe ich nicht an meine Kleidung.

Und doch ist da immer wieder diese leise Stimme, die mich fragt, weshalb ich mir nicht einfach ein Kleid, eine Bluse, einen Rock oder sonstiges kaufe, das als typisch weiblich angesehen wird. Ich mag es nicht und würde mich darin nicht unwohl fühlen, aber doch bekomme ich nur allzu oft gesagt, dass ich mich „schicker anziehen“ soll. Wie viel einfacher wäre es, wenn ich einfach Kleidung tragen würde, die Menschen meinem Geschlecht zuordnen. Wenn ich nicht immer wieder schauen müsste, wie tief der Ausschnitt ist oder wie lang das Kleidungsstück ist, um im besten Fall über meine Hüfte zu gehen.

Auf der anderen Seite frage ich mich oft, weshalb ich mich nicht explizit für geschlechtsneutrale oder männliche Kleidung entscheide. Ein innerer Konflikt, der immer mit derselben Antwort meines Kopfes endet: Weil ich die Kleidung aus der Frauenabteilung am meisten mag. Enganliegende Sachen finde ich dort am ehesten. Kleidung ohne Verzierungen, lange Kleidungsstücke und selbst solche ohne Ausschnitt finden sich dort, weshalb mir das reicht. Ich möchte nichts, das meinen Körper verdeckt. Und doch möchte ich keine „typische“ Kleidung aus der Frauenabteilung. Es ist eine endlose Spirale, die mich immer wieder einholt, da ich mich in keiner Abteilung so richtig wohlfühle. Und eben das nervt mich am meisten: Dass ich mich „nicht einfach entscheiden kann“.

Ich könnte auch nie in einer Firma arbeiten, die mir die Kleidung vorschreibt. Niemals würde ich einen Rock auch nur besitzen wollen, geschweige denn damit zur Arbeit gehen. Eine Bluse? Nein, Danke. Ein Anzug? Auch das nicht! Kleidung tragen, in der ich mich wohlfühle, das ist es, was ich möchte. Und doch haben zu viele Firmen, Clubs, Theater, etc. Kleidungsordnungen, an die ich mich halten soll, wenn ich sie besuchen möchte. Da lobe ich es mir, dass ich dazu bisher kein Verlangen hatte, einen Ort mit einer solchen Kleidervorschrift zu besuchen.

Ich würde viel dafür geben, irgendwann einmal nicht durch einen Laden gehen zu müssen und mich fragen zu müssen, ob ein Kleidungsstück „typisch weiblich“ aussieht. Einmal nicht eine Uhr nicht zu kaufen, nur weil sie als „Herrenuhr“ angepriesen wird. Nicht auf meine Lieblingsstiefel verzichten, nur weil mir gesagt wurde, dass ich damit auf dem Strich arbeiten könnte. Mir ein T-Shirt kaufen, das unterhalb der Schultern getragen wird, ohne mir darüber Gedanken zu machen, ob es genug verdeckt. Ich würde viel dafür geben, mich nicht immer wieder selbst zu fragen, ob ich wirklich ein Kleidungsstück kaufen möchte, das eine Botschaft hat. Dabei ist es komplett egal, ob diese Botschaft einem binären oder nichtbinären Geschlecht gilt. Einmal nicht darüber nachdenken, was andere Menschen von mir denken, wenn ich damit rumlaufe.

Ich weiß, dass an all dem nichts falsch ist. Ich unterstütze jede Person darin, das anzuziehen, was die Person möchte. Nur bei mir kann ich es nicht. Dabei würde ich wirklich gerne irgendwann einmal so rumlaufen, wie es mir gefällt. Sei es mit einer Herrenuhr, meinen Lieblingsstiefeln oder einem Outfit, das einem Anime entsprungen sein könnte. Einmal auf die Straße gehen und dabei nicht darüber nachdenken, was andere Menschen wohl von mir halten könnten. Einmal nicht vor dem Spiegel stehen und das zu verabscheuen, was ich darin sehe.

Einmal das Selbstvertrauen habe, den Vorschlag meines Partners anzunehmen, dass wir in ein Geschäft gehen, welches die Kleidung anbietet, nach der ich mich sehne. Mir eine Garnitur zu kaufen, die ich auch nur zu Hause anziehen kann, wenn ich das möchte. Darauf zu vertrauen, dass „Ich finde diesen Kleidungsstil schön und fände es toll, dich darin zu sehen“ nicht nur leere Worte einer Person sind, die mir damit Mut machen möchte. Einmal ich selbst sein zu können.

Und genau das gilt für alles, was ich hier geschrieben habe. Ich würde gerne einmal ich selbst sein und sagen, was ich denke. Aussprechen, was ich mir wünsche. Menschen darum bitten, (Neo)Pronomen für mich zu verwenden, meinem Partner mit seinem LRS entgegenzukommen, oder auch Kleidung zu kaufen, die mir wirklich gefällt, doch ich kann es nicht. Zu groß ist die Angst davor, dafür von anderen Menschen gehasst zu werden. Ausgeschlossen zu werden und nirgends willkommen zu sein.

Dabei ist nichts falsch daran, wenn Menschen sie selbst sein wollen. Das wollen wir doch alle. Wir wollen sein, wie wir sind, wollen uns im Spiegel ansehen können und stolz auf den Menschen sein, der uns entgegensieht.

Ich würde jeden Menschen unterstützen, der mich darum bittet. Würde jedem entgegenkommen, wenn es in meiner Macht steht und mich anderen Personen (nicht) anpassen, wenn sie es wollen. Und zeitgleich möchte ich von meinem Umfeld nur eins: Einfach „normal“ und ohne Sonderwünsche behandelt werden. Niemals würde ich mich gegen etwas auflehnen, das andere als richtig ansehen. Keine Extrawünsche, kein Entgegenkommen, kein Mitleid. Einfach nur akzeptiert werden. Dafür stecke ich jeden Schmerz ein, der damit einhergeht.

~ Anonym