Two mouths touching

Die meiste Zeit meines Lebens habe ich mich nicht sonderlich fürs Küssen und den romantischen Austausch von Zärtlichkeiten interessiert. Aber obwohl es nicht mein Thema war und ich noch nicht einmal wirklich das Bedürfnis danach hatte, mit einer Person zärtlich zu sein oder jemandem romantisch nahe zu kommen, war das Thema gefühlt ständig präsent. Die „Glaubenssätze“ meiner unmittelbaren Umgebung sind irgendwie an mir hängen geblieben.

Küssen – als Zärtlichkeit die von zwei Menschen geteilt wurde – würde etwas in einem Menschen verändern. Geteilte Zärtlichkeiten wären als Geschenk da, für mich und die andere Person und hätte ein Mensch einmal einen anderen geküsst, würde er mehr davon haben wollen. Zwischen zwei Menschen, die sich geküsst hätten, würde eine Art „Abhängigkeit“ entstehen und sollte die Beziehung auseinandergehen, wäre es schwierig, ohne die Zärtlichkeiten, die der Mensch schon erlebt hat – in dem Fall „küssen“ – weiterzuleben, weil das Verlangen so groß war. Im Nachhinein klingt das für mich ehrlich gesagt ein wenig nach der Beschreibung einer Droge, aber jedenfalls habe ich nie daran gezweifelt, dass einen anderen Menschen zu küssen – wenn es einmal dazu kam – auch für mich etwas Schönes sein würde. Zärtlichkeiten mit einem anderen Menschen zu teilen, würde auch für mich irgendeine Form von Unterschied machen und vielleicht diesen Hunger ein klein wenig in mir wecken.

Wie ein trockener Schwamm, der ins Wasser gefallen war, hatte ich diese Informationen aufgenommen und irgendwo im Hinterkopf gespeichert. Ich selbst verstand schließlich nicht viel von Romantik oder Beziehung und das waren Menschen, die mehr Ahnung und Erfahrung hatten. Vielleicht wollte ich ihnen auch ein Stück weit Glauben schenken. Da war es wohl gleich, dass ich in meinem eigenen Leben bis dahin keine Hinweise auf die Richtigkeit dieser Konzepte finden konnte.


Mein erster Kuss hat lange auf sich warten lassen. Teils weil ich kein Interesse daran hatte, einen anderen Menschen zu küssen, teils weil ich es aktiv verweigert habe und teils vielleicht auch, weil ich einer romantischen Beziehung lange so großräumig wie möglich aus dem Weg gegangen war.
Und dann ist meine Beziehung passiert.
Und der erste Kuss.
Ich kann gar nicht genau sagen, was ich mir zu dem Zeitpunkt eigentlich davon erwartet hatte. Sicher nicht, dass sich alles magisch ändert und ich plötzlich begreifen würde, wie andere Leute „romantische Liebe“ verstehen. Sicher auch nicht, dass ich wirklich nicht mehr ohne küssen kann. Aber vielleicht doch, dass sich etwas ändert. Ich hätte damit gerechnet, dass irgendetwas in mir „geweckt“ wird. Und ich hatte wohl auch damit gerechnet, dass es zumindest eine angenehme Erfahrung sein würde.
Dass es das für mich nicht war, kam überraschend und unerwartet. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und vor allem wie ich es sagen sollte. Bis dahin war „küssen“ in meinem Kopf bloß ein abstraktes Konzept gewesen und auch wenn ich nie bewusst nach der Chance gesucht hatte, es in die Praxis umzusetzen, hatte ich nicht damit gerechnet, dass ich es tatsächlich unangenehm finden könnte. Eine Sache, die für meine damaligen Begriffe „jeder andere Mensch“ erfüllend und als Genuss wahrnahm. Eine Sache von der irgendwo in meinem Hinterkopf ein positiv besetztes Bild eingespeichert war, obwohl ich keine Erfahrungen aus erster Hand gehabt hatte, um das zu begründen.

Und dass ich das nicht so empfand, war eine Abweichung.
Im Rückblick nur eine von vielen Abweichungen in einer Beziehung, in der quasi an jeder Ecke ein gut sichtbares Schild mit der Aufschrift „Finn ist Aro“ stand. Ein Schriftzug, den ich damals nicht lesen konnte, weil ich das Alphabet dafür nie gelernt hatte. Und ich wusste nicht, was ich mit dieser Abweichung machen sollte. Es gab kein Narrativ dafür, küssen nicht zu mögen. Kein Narrativ dafür, zu sagen: „Wenn ich dich küsse, möchte ich nachher bitte etwas trinken“ und auch keines für „Ich mache das für dich, weil ich dich mag, aber eigentlich ist es nicht meins“ oder auch für „Ich mag das gar nicht machen.“

Ich war mit einem einzelnen Narrativ aufgewachsen.
Das zeigte sich nun in meiner Sprachlosigkeit und Unsicherheit.
Und auch in dem Gedicht, das ich nach der Erfahrung geschrieben habe, um mein Erlebnis irgendwie zu verarbeiten und in Worte zu fassen:

Two mouths touching,
They said that I’d like it,
Always craving more,
Like a flame that we lit.

It’s a human desire,
burning deep in the soul,
once awakened a fire,
so hard to control.

But now that it happens,
this feels hard to believe;
now you’re so close,
it’s as if I can’t breathe.

Feels like a mouth full of earth,
While I’m in your embrace,
Snails crawling over my skin,
Right onto my face.

Want to wipe it away,
Wash it down with a drink,
To wiggle out of your arms,
I don’t know what to think,

Never heard anything like this,
therefore assumed I’d enjoy it,
the more confusing to realize,
that I despise every bit.

It’s not about wrong or right,
How does one explain,
This just feels bad,
All my words seem in vain

You did nothing wrong,
Just how do I say,
Even if I love you,
Not in this way.

Seither haben sich für mich einige Dinge verändert.
Ich habe gelernt, was Aromantik ist, aber auch dass ich meine Erfahrung treffend als demisensuell beschreiben kann und ich außerdem über viele Formen von Zärtlichkeit kompromissfähiger bin, wenn mein Gegenüber eine nicht-männliche Person ist. Küssen aber ist immer noch nicht meins und romantische Liebe oder Partner*innenschaft immer noch nichts, was ich „brauche“ oder bewusst suche.
Dieses Feuer oder Verlangen nach mehr wurden in mir auch nicht „geweckt“.
Noch viel mehr habe ich neue Narrative gefunden. Teils habe ich danach gesucht und (sehr unterschiedliche) Narrative anderer Menschen in der Arospec-Community kennengelernt. Manches habe ich verworfen, anderes für mich als treffend empfunden und teils habe ich mir mein Narrativ schlichtweg selbst geschrieben.
Jetzt kann ich sagen, dass ich unter Umständen einen Kompromiss über den einen oder anderen Kuss eingehen könnte, aber auch dass ich es vielleicht auch einfach nie mache. Das möchte ich aber in der Situation entscheiden und immerhin habe ich jetzt auch die Worte und die Möglichkeit zu sagen, wie ich zu küssen empfinde, für den Fall, dass ich jemals wieder eine (romantische) Partner*innenschaft eingehen sollte, oder auch nur mit anderen Menschen übers Küssen rede.

Aber für all das brauchte ich erst einmal Worte.
Worte die ich nicht hatte, solange es nur ein einziges Narrativ gab.
Und mit einem Narrativ übers Küssen aufgewachsen, war mir nicht klar, dass es auch andere geben konnte.
Oder überhaupt welche notwendig waren.
Aber das waren sie.
In dem Augenblick, in dem ich mich nicht mehr darin finden konnte.

I need those words,
`Cause that’s how I say,
However I love you,
This isn’t my way.

~ Finn