Trotzdem

Liebe.
Was ist das überhaupt?
Und warum schaffe ich es ausgerechnet beim Monats-Thema Liebe nicht „rechtzeitig“ (also im November) einen Beitrag zum Thema zu verfassen? Dabei ist das Thema so weit und breit, dass ich mir irgendetwas herauskramen können sollte. Oder zumindest stelle ich diesen Anspruch an mich. Und an dem Fehlen von Gedanken zum Thema „Liebe“ ist es letzten Monat ja auch nicht gescheitert. Eher an der überwältigenden Präsenz eines einzigen Gedankens, den ich nicht wirklich verschriftlichen konnte. Aber vielleicht versuche ich doch noch einmal, mein komplizierteres Verhältnis zu dem Wort „Liebe“ in Worte zu fassen.
Schließlich kommt jetzt ja auch Weihnachten.
Das Fest der Liebe wie manche Menschen sagen.
Ob nun Romantisch oder anders.
Menschlich oder „göttlich“.

Was also ist Liebe?
Viele Menschen denken vielleicht erst an Romantik, Partner*innenschaften und je nach Geschmack vielleicht auch an Kitsch. Es existiert so manche verklärte Vorstellung davon, was Liebe sein soll. Wieder anderen fallen vielleicht ihre Familien ein, die Eltern, Geschwister oder Kinder. Und dann gibt es Menschen, die beim Wort „Liebe“ an ihre Freund*innen denken.
Meine eigenen Erlebnisse mit dem Konzept Liebe sind schwer zusammenzufassen.
Liebe im Sinne von romantischer Liebe habe ich der Form noch nie empfunden. Ich fühle mich nicht romantisch zu Menschen hingezogen und auch romantische Anklänge in der Weihnachtszeit sind für mich immer eher eine Fremdsprache gewesen. Ich kann nur versuchen, logisch nachzuvollziehen, dass manche Menschen die dunkle Zeit des Jahres oder die Weihnachtsfeiertage gerne mit ihren Partner*menschen verbringen und nicht alleine sein wollen. Klar freue ich mich auch für sie, wenn das dann funktioniert und Weihnachten zu einer romantischen Zeit für sie wird. Schließlich bin ich froh, wenn es meinen Freund*innen gut geht, auch wenn ich ihre Bedürfnisse nicht immer ganz nachvollziehen kann. Es scheint ihnen jedenfalls nicht zu schaden. Ich selbst aber kann nicht so viel mit romantischer Liebe und Weihnachten anfangen. Selbst in meinen romantischen Beziehungen habe ich nie wirklich verstanden, was zur Weihnachtszeit anders sein sollte, als zu anderen Zeiten des Jahres und warum es so viele weihnachtliche Liebeslieder gibt.

Meine Erfahrungen mit dem Thema Liebe sind andere, manchmal schwer greifbar und noch schwieriger zu benennen. Ich würde nicht über viele Menschen sagen, dass ich sie liebe oder geliebt habe, aber einige wenige sind es schon.
Da wäre zum Beispiel meine Familie. Ich habe nicht immer das einfachste Verhältnis zu den Mitgliedern meiner engeren Familie und mit Einzelnen auch komplexere Beziehungen, aber trotz aller Schwierigkeiten merke ich, dass es da eine Verbindung gibt. Als ich mich vor bald zwei Jahren am Krankenbett einer Person wiederfand, unsicher ob sie jemals wieder aufsteht und mit mir redet, unsicher ob wir jemals wieder streiten oder davonlaufen würden, unsicher ob ich jemals wieder die Anspannung spüren würde … Oder auch die Distanz zwischen uns … Trotzdem habe ich mich nahezu jeden Tag im Krankenhaus wiedergefunden, einen Zettel unterschrieben, das Auf-Und-Ab ausgehalten, über den Tod nachgedacht. Und gemerkt, dass ich so etwas wie Liebe empfinde. Nicht dass ich damit jegliche Distanz, jede Uneinigkeit und jeden Schmerz überwinden hätte können, aber ich war da.
Ich war nicht gleichgültig.
Ich habe geliebt.
Vielleicht ist Liebe manchmal ein „Trotzdem“.

Ich habe auch einige Freundespersonen, von denen ich sagen würde, dass ich so etwas wie „Liebe“ für sie empfinde und die meisten von ihnen sind einfacher zu lieben als das. Naja, es gibt auch einige Freund*innen, denen ich nicht mehr so nahe stehe wie früher. Wir haben uns auseinanderentwickelt, aber eine von ihnen liebe ich immer noch, selbst wenn wir uns wohl nicht mehr einig werden und wir wohl nicht mehr nah sind wie früher.
Wieder ein „trotzdem“.
Vielleicht kann ich daraus schließen, dass das was ich „Liebe“ nenne, nicht einfach verschwindet, nur weil die Person weg ist. Dass diese Erfahrung und diese Gefühle nicht einfach weg sind, weil ich mich von der Person distanziert habe. Jemanden zu lieben heißt für mich wohl nicht, mich der Person voll und ganz auszusetzen, obwohl ich merke, dass sie mir nicht mehr gut tut, oder unsere Beziehung nicht mehr passt. Irgendetwas bleibt, etwas Positives neben all den schwierigen Erfahrungen. Es scheint, als könnte ich eine andere Person weiterhin lieben, obwohl ich keine Zeit mehr mit ihr verbringen möchte.
Aber es gibt auch Menschen, die leichter zu lieben sind. Selbst wenn auch hier … Auch wenn ich manche Personen in meinem Leben nicht missen möchte, ist es manchmal schwierig und dann wird meine Liebe auch hier ein „trotzdem“. Lieber ist es mir aber, wenn sie das nicht sein muss. Dann ist sie vielleicht eher eine Haltung meinem geliebten Menschen gegenüber. Eine Bereitschaft, das Beste zu unterstellen, bis ich guten Grund habe, das Gegenteil zu vermuten, zuzuhören und mich um die zwischenmenschliche Beziehung zu bemühen.

Aber am Ende bleibt Liebe für mich immer auch ein Konzept, ein Ideal, dem Menschen folgen können und von dem sie versuchen können, es in ihrem Leben umzusetzen. Vielleicht sind es eigentlich auch mehrere unterschiedliche Konzeptionen von Liebe, aber irgendwie ist es für mich immer auch ein Balanceakt. Liebe kann in viele Richtungen kippen und am stärksten erlebe ich das nicht, wenn ich selbst einen Menschen liebe sondern beim „Geliebt-Werden“. Vor allem bedeutet Liebe für mich nicht, dass eine Person, die mich liebt auch wirklich zu meinem Besten handelt. Idealerweise versuchen wir, einem Menschen, den wir lieben, Gutes zu tun, aber viele Dinge geschehen im Namen der Liebe oder werden als Liebe bezeichnet.
Ich habe also auch schlechte Erfahrungen mit dem Wörtchen „Liebe“.

„Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern das ewige Leben hat“ (Johannes 3,16)

Ein Bibelvers den ich nie vergessen werde.
Und Weihnachten als Fest der Liebe kenne ich ursprünglich auch weniger mit einer romantischen Bedeutung sondern bezogen auf göttliche Liebe. So groß war die Liebe Gottes zu den Menschen, dass er sich selbst in Gestalt des Sohnes auf die Erde begab, um für die Menschen sein Leben hinzugeben und ihre Schuld zu bezahlen.
Trotzdem habe ich mich vom Weihnachtsfest immer auf seltsame Art und Weise distanziert gefühlt. Vielleicht weil ich das Konzept Liebe schon damals als zweischneidig und schwierig erfahren habe. Und es wäre schön, wenn dieser Bibelvers – einer von vielen den ich als Kind auswendig gelernt habe – der einzige Satz zum Thema Liebe wäre, der in meinem Kopf geblieben ist. Der Gedanke, dass der Wille und Plan Gottes immer zum Besten für die Menschen (und damit auch für mich) wäre, wäre ein weiterer. Das klingt im ersten Moment gut, aber es heißt auch, dass ich damit immer der Macht der Person unterworfen bin, die gerade die Bibel oder den Willen Gottes interpretiert. Und besonders als Kind (oder generell wenn ein Mensch in einer Autoritätsposition die Deutungshoheit beansprucht) ist es schwer gegen theologische Auslegungen zu argumentieren. Das gilt insbesondere, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse zum Text unbekannt sind oder abgetan werden. Da kann der liebevolle Plan Gottes auch schnell zur Waffe werden und einen einschränken. Zum Beispiel, wenn ich von einer ehemaligen Freundin missgendert werde, weil sie denkt, mir damit etwas Gutes zu tun. Gott hat – ihrer Meinung nach – schließlich keine nicht-binären Personen erschaffen und es wäre besser für mich, mein „eigentliches Geschlecht“ zu akzeptieren.
„Wer Gott liebt, wird ihm auch gehorchen“ ist ein weiterer Satz, der mich beschäftigt und den ich nur schwer aus dem Kopf bekomme. Wenn christliche Personen also davon sprechen, wie sich die große Liebe Gottes in dem Kind in der Krippe zeigt, schwingt bei mir automatisch noch etwas anderes mit. Eine Waffe, Deutungshoheit, die Frage nach Gehorsam. Dinge die laut anderen Personen nichts mit Liebe zu tun haben sollten und in einer Vertrauensbeziehung keinen Platz haben, die aber in meiner Erfahrung auch mit der Göttlichkeit der „liebenden Person“ gerechtfertigt wurden.


So wie ich sie erlebt habe, kann Liebe vieles sein.
Manchmal gut und angenehm, wenn eine Person mein Vertrauen nicht verletzt. Manchmal schwierig, zum Machtinstrument missbraucht oder manipulativ. Und manchmal dachten Menschen wohl wirklich, dass sie mir durch ihr Handeln Gutes tun. Eine Arbeitskollegin hat einmal empört reagiert, weil ich Liebe als Konzept bezeichnet habe. Für sie bedeutet das Wort nur das Schöne und die schlechten Dinge sind in Wahrheit nicht Liebe. Sie immunisiert den Begriff Liebe, aber das möchte und kann ich nicht. Und im Hinblick auf meine Erfahrungen wundert es mich nicht, dass der Begriff „Liebe“, für mich immer irgendwie konzepthaft und schwierig bleibt.
Ich kann den Begriff nicht vollständig von meinen negativen Erfahrungen und Assoziationen reinigen und auch wenn ich lernen möchte, besser damit umzugehen, möchte ich das auch nicht vollständig. Es gab Situationen, in denen das Konzept Liebe ein Schönes war und andere in denen es Druck und Schwierigkeiten bedeutet hat, auch Situationen in denen Menschen mir wehgetan haben und sich mit dem Wort „Liebe“ verteidigt haben. Genauso aber empfinde ich manchmal auch diese tiefe positive Bindung zu Menschen, diese Haltung, die ich für mich als Liebe bezeichne.
Vielleicht ist der Grund, dass ich dieses Wort noch verwende, was für mich das Wesen der Liebe ausmacht. Ob es nun aus der Nähe oder aus der Distanz passiert, tut vielleicht nicht viel zur Sache. Es gibt Orte, die ich geliebt habe und Dinge oder Menschen, die ich noch liebe, ohne jemals zu ihnen zurückgehen zu wollen.
Und es gibt ein Wort, das ich dafür verwende.
Ich verwende es
trotzdem.

~ Finn