Spannungsfeld: Sichtbarkeit

Content Notes: Aro-Feindlichkeit (typische diskriminierende Sätze werden zitiert), Queerfeindlichkeit, problematische Aussagen tlw. aus Unwissenheit

Wir wollen Sichtbarkeit.
Das Thema kommt immer wieder.
Und das aus gutem Grund. Sichtbarkeit ist wichtig. Wenn die eigenen Lebensentwürfe und Erfahrungen nicht sichtbar sind, ist es schwieriger, andere Personen zu finden, denen es ähnlich geht. Es ist eine größere Herausforderung, Worte zu finden, um das eigene Erleben einordnen oder beschreiben zu können. Sich mit Personen auszutauschen, denen es ähnlich  geht wird schon fast eine kleine Unmöglichkeit. Und wenn wir um uns herum keine Personen sehen, die unsere eigenen Erfahrungen teilen, kann es schnell dazu kommen, dass sich Menschen falsch oder kaputt fühlen. Ein bestimmtes Empfinden von romantischer Liebe und Beziehungen zählt als gesellschaftliche Norm und wenn ich das nicht replizieren kann, muss ich die Person sein, mit der etwas nicht stimmt. Für alle anderen scheint das ja gut zu funktionieren. Darum ist Repräsentation unterschiedlicher Lebensrealitäten wichtig. Es braucht unterschiedliche Charaktere quer durch das aromantische Spektrum (und anderer queerer Identitäten) in Büchern, Filmen, Computerspielen und wo es sie sonst noch so geben könnte. Darüber hinaus würde ich mich freuen verschiedene Beziehungsformen und Lebensrealitäten repräsentiert zu sehen. Und ob nun auf dem Aro-Spektrum oder nicht, freue ich mich über alle Charaktere, deren Leben von der romantischen Norm abweicht und die einfach zufrieden damit sind.
Ich wünsche mir, dass immer weniger Menschen nicht erst Mitte 20. oder noch viel später draufkommen, dass sie aromantisch oder auf dem Spektrum sind. Schon allein weil sie sich dann hoffentlich weniger lange vielleicht sogar nie fragen müssen, was mit ihnen nicht stimmt. Und dass andere Menschen über Aromantik Bescheid wissen.
Auf dem aromantischen Spektrum zu sein, macht uns schließlich noch nicht zu lebendigen Lexikoneinträgen.

Wenn unsere Lebensrealitäten und alternative Beziehungsformen sichtbar wären, könnten sie in im Gesetz und in institutionell eher Berücksichtigung finden. Sie wären nicht mehr unsichtbar. Ich könnte mit anderen Menschen leichter darüber reden, wie meine Beziehung aussieht, ohne jedes Mal erklären zu müssen, was eine queerplatonische Beziehung ist – und die einzige Alternative wäre nicht mehr, mich damit abzufinden, dass die Person, mit der ich spreche, eben ein falsches Bild meiner Partner*innenschaft und meinen Gefühlen gegenüber meinem Partnermenschen hat. Vielleicht würde ich mir auch weniger Gedanken machen, bevor ich über andere Aspekte meiner Queerness spreche, weil ich zumindest wüsste, dass Menschen vielleicht schon einmal davon gehört haben. Ich hoffe, dass ich dann weniger wahrscheinlich zu hören bekommen würde, dass das doch nicht sein kann, ich mich noch ändern werde, oder ich so doch nicht glücklich werden könnte. Und ich würde mich freuen, dass auch andere Menschen auf dem aromantischen Spektrum solche Dinge seltener zu hören bekommen ob nun nach oder vielleicht auch vor ihrem Outing, wenn sie einfach versuchen mit oder ohne Label ihre Gedanken und ihr Erleben zu erklären.

Schon allein deswegen setze ich mich gerne für Sichtbarkeit ein.
Aber so sehr ich Sichtbarkeit will – so sehr ich manchmal selbst als Person auf dem aromantischen Spektrum sichtbar sein möchte – macht es mich manchmal auch nervös. Gestern habe ich mich implizit in einem meiner Seminare als queer geoutet. Mehr Emotionen hätte eine philosophische Diskussion über Foucaults Biopolitik und Biomacht wohl nicht mehr vertragen. Aber wie soll ich denn ruhig bleiben und schweigen, wenn in einem Seminar mit 30 Personen wieder einmal über Queerness gesprochen wird, als würde es niemanden betreffen und dann bedenkliche Aussagen fallen, wie dass es ja nicht mehr so schlimm wäre mit der Queerfeindlichkeit, weil Homosexualität ja nicht mehr verboten wäre, oder wir uns zuerst um größere Probleme wie den Klimawandel kümmern sollten, als ob die Menschheit sich nicht mit mehr als einem Thema auf einmal befassen könnte?
Ich rede über Queerfeindliche Strukturen, weil es zum Seminar passt und über Gesetze und Förderungen, die Kinder kriegen und Cis-Hetero-Familiengründung fördern, aber andere Partner*innenschafts- und Familienformen benachteiligen. Ich reiße Polybeziehungen an, Aromantik, Transgender – alles Mögliche in sehr kurzer Zeit. Dann gehe ich weiter zu Queerfeindlichkeit und nenne Zahlen dazu, von denen vermutlich kaum noch jemand glaubt, dass ich sie zufällig gerade auswendig weiß.
Und bei allem frage ich mich: Sollte mein Herz gerade so schnell schlagen? Sollte ich zittern und so dermaßen nervös sein? Sollten mich jetzt alle ansehen, weil ich die queere Person im Raum bin, die gerade den Mund aufgemacht und sich zu dieser Diskussion geäußert hat? Ich habe nicht klar spezifiziert, aber ich denke, was ich gesagt habe, reicht aus, um zu zeigen, dass es nicht von einer nicht-queeren Person kommt.
Mit einem Mal bin ich sehr sichtbar.
Weit sichtbarer als mir in diesem Moment lieb ist.
Nach dem Seminar beeile ich mich erst einmal raus zu kommen. Ich studiere auf einer kleinen Privatuni. Das sorgt für einen eingeschränkteren Kreis, aber auch dafür, dass ich potenziell feindselig eingestellten Menschen schwer aus dem Weg gehen kann. Es ist ein seltsames Gefühl so plötzlich sichtbar zu sein.
Ich merke: Sichtbarkeit macht angreifbar. Verletzlich.

Das ist nicht die einzige Situation, in der Sichtbarkeit mich nervös macht.
Auch geplante Sichtbarkeit wie Interviews haben für mich noch nicht ganz ihre Bedrohlichkeit verloren. Ich sehe es als wichtig an, dass Menschen offen über ihre Aromantik sprechen und dementsprechend möchte ich das auch tun. Aber Sichtbarkeit ist ein Spannungsfeld. Je sichtbarer ich als queere Person werde, umso sichtbarer die Erfahrungen und Lebensrealitäten werde, für die ich spreche, umso mehr werden sie greifbar für andere Personen, denen sie vielleicht helfen. Aber umso greifbarer werde ich auch für Menschen, die Queerness feindselig gegenüberstehen. Und für Menschen, die sich ein fixes Bild von mir machen wollen – Ich mag das nicht.
Es ist meistens falsch.

Für mich bleibt Sichtbarkeit am Ende ein Spannungsfeld.
Ich will sichtbar sein mit meiner Lebensrealität, meinen Erfahrungen und Entscheidungen. Am liebsten wäre es mir, wenn ich damit einfach offen leben und auf Verständnis stoßen könnte. Das ist aber nicht immer so und das Problem ist, dass es vermutlich nur so werden kann, wenn ich mich weiter für Sichtbarkeit einsetze. Und an manchen Punkten ist das für mich schwer, ohne selbst sichtbar zu werden. Manchmal sichtbarer als ich mich damit direkt wohl fühle. Dabei ist die Sichtbarkeit für mich wohl noch weniger riskant als für manche anderen Personen auf dem aromantischen Spektrum.
Dass mit Sichtbarkeit viel Unverständnis und manchmal Anfeindungen kommen, gilt aber nicht nur für mich, sondern auch für die Community. Aus „Das gibt’s doch gar nicht“ wird „Die sind doch gefühllos und krank“. Aber auch das kann ich nicht einfach so stehen lassen. Ich sehe, es gibt noch jede Menge zu tun für uns als Community. Aber auch konstruktiv gegen Diskriminierung vorgehen, geht am Ende nicht ganz ohne Sichtbarkeit. Wenn nicht jemand etwas dagegen sagt und für ein anderes Bild sorgt, wird ein vereinfachtes und vielleicht für viele Menschen schädliches bleiben.
Vielleicht kommen wir so über die Zeit langsam zu mehr Verständnis.
Aber erst einmal bleibt das Ganze für mich wohl ein Spannungsfeld.

~ Finn