Nicht auf dieselbe Weise – Vom Kuschelakku, Berührungstoleranz und Demisensualität

„Du hast auch nicht auf dieselbe Weise Nähe gesucht wie andere Kinder“

Das ist nur einer der Sätze, die ich mir aus einem längeren Gespräch vor bald zwei Wochen mitgenommen habe. Ein interessanter Satz, bei dem ich wohl nie genug Rückfragen stellen könnte, die aber für meine Gesprächspartnerin genauso wie für jede andere Person, bei der ich nach weiteren Informationen suchen könnte, vermutlich nicht so einfach genauer zu beantworten wären. Und wenn sich eine gute Gelegenheit ergibt, mache ich mich früher oder später vielleicht wirklich auf die Suche nach weiteren Informationen. Mich würde zum Beispiel interessieren, auf welche Art und Weise Kinder denn „normalerweise“ Nähe suchen – ich kann das echt schwer beschreiben/einordnen – oder auch ob andere Menschen aus meinem Umfeld das damals ähnlich wahrgenommen haben. Natürlich habe ich selbst Gedanken dazu, aber meine eigene Wahrnehmung ist in diesem Fall wohl durch Fremdwahrnehmung zu ergänzen, um ein umfassenderes Bild zu erhalten und treffendere Aussagen machen zu können.

Dennoch tut es gut, zu hören und damit eine Erinnerung zu haben, dass manche Dinge nicht nur in meinem Kopf stattgefunden haben. Die Aussage macht Sinn, wenn ich mir die Worte ins Gedächtnis rufe, die ich nutze, um mein Verhältnis zu Körperkontakt, Berührung und mein Erleben sensueller Anziehung  zu beschreiben und innerhalb der A*spec-Community zu diskutieren. Bei dem Thema habe ich meist gar nicht so wenig zu sagen und wenn es um eine genauere Verortung, meines eigenen Erlebens geht, kann ich mich treffend als demisensuell mit einer Präferenz für nicht-männliche Personen bezeichnen.

Die meiste Zeit bin ich wohl nach wie vor nicht die kuschligste Person.
Über Worte wie „Unterkuschelt“, „Touch-Hunger“ oder „Berührungsmangel“ mache ich mir selten Gedanken und habe mich überhaupt erst damit beschäftigt, weil ich festgestellt habe, dass es anderen Menschen anders geht. Im Vergleich zu manchen befreundeten Personen komme ich recht lange ohne Körperkontakt klar und habe keine Probleme damit, zu wenig (als positiv empfundenen) Körperkontakt zu bekommen. Wenn ich wieder einmal höre, dass sich ca. 70 % der Menschen mehr Umarmungen wünschen, lässt mich das erst einmal erstaunt zurück und ich brauche einen Moment, um mich zu erinnern, dass unterschiedliche Personen zwischenmenschlichen Kontakt unterschiedlich erleben und für so manchen Menschen körperliche Berührung vielleicht eine größere Rolle spielt als für mich.
Diese unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema finde ich spannend, aber persönlich komme ich wohl vergleichsweise lange ohne oder mit wenig Körperkontakt mit anderen Menschen klar und die meiste Zeit suche ich nicht bewusst danach. Mit dem Konzept eines Kuschelakkus kann ich für mich persönlich nicht so viel anfangen, auch wenn der Vergleich für manche Menschen wohl treffend zu sein scheint und ich ihn ganz lustig finde. Oder aber mein Kuschelakku ist so leistungsfähig, dass ich ihn meist ungeplant aufgeladen habe, bevor er überhaupt leer wird? Keine Ahnung, mein persönlicher Akku wird wohl eher durch längere Gespräche aufgeladen. Diese Möglichkeiten könnten natürlich kombiniert werden. Wenn das der Fall ist, bin ich meist nicht die Person, die Berührungen initiiert. Meine Bedürfnisse scheinen sich hier, von denen der meisten anderen Menschen zu unterscheiden und das war vielleicht schon in meiner Kindheit so; jedenfalls solange ich mich erinnern kann.

Vielleicht kann treffend gesagt werden, dass es einfach wenige Menschen gibt, deren Berührungen ich für mich als positiv wahrnehme und einordnen kann. Statt eines Kuschelakkus habe ich wohl eine Art Berührungstoleranz und bei fremden Menschen oder Personen, zu denen ich keine engere Verbindung und/oder nicht genügend Vertrauen habe, ist diese mitunter sehr schnell erschöpft. Körperkontakt wird dann oft und schnell als unangenehm, zu nah oder zu lange empfunden. Mich zu entspannen ist dann insgesamt schwer und es fällt mir schwer zu verstehen, warum Umarmungen in bestimmten Situationen wie zur Begrüßung, zum Abschied oder zu anderen Anlässen Standard zu sein scheinen. Für mich macht es mehr Sinn, nach Situation und Person zu entscheiden, ob ich eine Person umarmen oder sonst wie berühren möchte. Aber als ich irgendwann begonnen habe, da klarere Grenzen zu ziehen, hat das auch zu schwierigen Situationen geführt, in denen ich wohl die eine oder andere Person vor den Kopf gestoßen habe, weil ich mich zum Beispiel von bestimmten Menschen umarmen habe lassen, von ihnen aber nicht, weil die notwendige Basis dafür bei mir nicht vorhanden war und ich mich dabei unwohl oder schlecht gefühlt hätte.
Wenn ich einer Person näher komme und mehr Vertrauen zu ihr aufbaue, steigt damit meine Berührungstoleranz und ich kann mehr Körperkontakt und Berührung tolerieren.  Trotzdem hatte und habe ich bis heute noch die meiste Zeit nicht den Wunsch, körperliche Nähe zu einer Person zu suchen, mich in den Arm nehmen zu lassen, oder Menschen zur Begrüßung zu umarmen. Bei manchen Menschen akzeptiere ich es trotzdem, nehme sie vielleicht mal in den Arm, weil es okay ist, sie mir wichtig sind und ich gelernt habe, dass es ihnen gut tut, oder sie es mögen.

Das gilt zumindest, solange es mir gut geht, was mich zum nächsten Punkt bringt, der mich immer wieder überrascht. Nämlich dass viele Menschen ein größeres Bedürfnis nach Körperkontakt zu haben scheinen, wenn es ihnen schlecht geht, sie traurig oder sonst irgendwie emotional sind. Das ist bei mir meist nicht so. Da passiert es zum Beispiel gar nicht so selten, dass meine Berührungstoleranz sinkt, wenn ich emotional aufgeladen bin, oder es mir nicht gut geht. Dabei denke ich zum Beispiel an einen kleinen Konflikt mit meiner Mutter vor ca. zwei Jahren, als sie in einer für uns alle schwierigen Situation Körperkontakt gesucht hat und ich sehr klar gesagt habe, dass ich keine Nähe möchte und mich dann zurückgezogen habe. Sie hat dann geäußert, dass sie Unterstützung in Form von Körperkontakt gesucht hat. Aber ich erlebe die Welt wohl anders. Wenn ich emotional aufgeladen bin oder die Gesamtsituation schwierig ist, brauche ich erst einmal Zeit, ohne zu viele weitere sinnliche Eindrücke, um das Chaos zu sortieren. Solange keine emotionalen oder berührungstechnischen Grenzen überschritten werden, tut es oft gut, eine Person da zu haben, die mir dabei hilft, indem sie zuhört und je nach Situation vielleicht auch den einen oder anderen Gedanken, eine Frage oder sonstigen Input beisteuert. In dem Punkt bin ich wirklich dankbar für die Personen, die mir beigebracht haben, dass diese Grenzen eingehalten werden können und die vorher gefragt haben, ob sie mich in den Arm nehmen oder mir die Hand auf die Schulter legen dürfen, wenn ich irgendwo emotional war oder in einem Gespräch ungeplant zu weinen begonnen habe. Das ist nicht die einzige Grenze, von der ich lernen durfte, dass sie nicht ständig bedroht ist, aber es war auf jeden Fall eine der wichtigen und hat mir auf jeden Fall geholfen, mein Verhältnis zu Berührungen zu verstehen und besser zu kommunizieren.
Ähnliche Verständnisschwierigkeiten habe ich beim Thema Versöhnungsumarmungen. Ich erinnere mich an eine Situation, wo ich bewusst eine Person angesprochen habe, um eine schwierige Situation mit ihr auszureden. Sie hatte etwas gesagt, was mich verletzt hat und obwohl ich nach wie vor froh bin, das Gespräch gesucht zu haben, kam ich mir am Ende fast unter Druck gesetzt vor, sie zu umarmen. Ich war durchaus bereit, gemeinsam einen sinnvollen Weg um den entstandenen Schaden herum zu finden. Ich war nicht mehr sauer. Aber ich war eigentlich noch nicht wieder bereit für die Umarmung, der ich damals –beeinflusst durch ein ungleiches Machtverhältnis – zugestimmt habe. Heute würde ich mit der Situation vielleicht anders umgehen und mir außerdem leichter tun einen Weg zwischen „Umarmung geschehen lassen“ und „Person wegstoßen und vermutlich hart vor den Kopf stoßen“ zu finden. Aber damals wusste ich das alles noch nicht so wirklich zu kommunizieren und das Gespräch hat einen seltsamen Beigeschmack behalten, den ich erst langsam wieder abstreifen konnte. In anderen Situationen war ich schneller bereit, wieder eine Umarmung zu teilen. Es kommt wohl auf Person und Situation an.
Vielleicht hängt es auch von meiner gesamten Berührungstoleranz in dem Moment ab.

Anders sieht es aus, wenn ich tatsächlich einmal sensuelle Anziehung – also das auf eine bestimmte Person gerichtete Verlangen, dieser Person auf einer körperlichen Ebene nahe zu sein und (nicht-sexuelle) Zärtlichkeiten auszutauschen – empfinde. Das passiert nicht häufig und zumindest bislang nur unter der Bedingung, dass ich schon eine starke Vertrauensbeziehung zu der Person hatte, aber es kommt vor. Ich entwickle bei weitem nicht für jeden Menschen, dem ich vertraue, sensuelle Anziehung und auch wenn sich die Anzahl der Menschen, auf die diese Grundvoraussetzung zutrifft, in den letzten Jahren gestiegen ist, kann ich das von den Fällen, wo sensuelle Anziehung auftritt nicht behaupten. Es fühlt sich nach wie vor so an, als wäre ein Schalter in meinem Kopf umgelegt worden. Ich toleriere dann nicht länger nur die körperliche Nähe einer Person, gehe einen Kompromiss ein oder umarme sie, weil ich weiß, dass es ihr gut tut, sondern habe einen intrinsischen Wunsch danach. Einen Wunsch den ich sonst im Normalfall nicht habe. Was ich damit mache, hängt aber von der Situation ab. Bei einer damals sehr guten Freundin habe ich tatsächlich recht spielerisch versucht, eine sensuelle Komponente in unsere Beziehung zu integrieren, bis es dann normaler geworden ist, mal zu kuscheln. Im frühsten Fall, von dem ich klar sagen kann, dass ich etwas empfunden habe, das als sensuelle Anziehung bezeichnet werden könnte, habe ich hingegen überhaupt nichts damit gemacht. Das lag und liegt zum Teil heute noch an der zwischenmenschlichen Beziehung, die ich zu der Person habe und in der Körperkontakt bis auf bestimmte Situationen keine sonderlich große Rolle spielt. Demnach genieße ich einfach die Situationen, in denen es doch der Fall ist. Es ist ohnehin nicht alltäglich, dass ich Berührung auf diese Art und Weise erlebe und vielleicht sind das die wenigen Situationen, die bei mir tatsächlich einen – offenbar recht langlebigen – Knuddel(ersatz)akku aufladen.
Oder ein Fenster in eine andere Welt.

Dennoch scheinen Berührung, Körperkontakt oder Kuscheln für mich eine eher untergeordnete Rolle in meinen zwischenmenschlichen Beziehungen zu spielen und manchmal wünsche ich mir, dass Berührungen eine geringere Rolle im Alltag spielen würden. Ich weiß und verstehe, dass für viele Menschen Körperkontakt eine weit wichtigere Rolle spielt als für mich und das daher nicht möglich ist. Ich würde nicht wollen, dass Menschen etwas für sich so Wichtiges verlieren. Aber dennoch ist es manchmal schwierig, eine Welt navigieren zu müssen, in der Körperkontakt Schlüsselstellen einnimmt, die ich nur schwer verstehe und in den meisten Fällen nicht nachvollziehen kann. Mit oder ohne sensuelle Anziehung bleibt mein Verhältnis an Berührungen eng an die jeweilige Personen und Situation geknüpft. Es kann sein, dass mir die Grundlage für eine Umarmung fehlt, ich empfindlich auf eine Berührung reagiere oder einfach nur emotional aufgeladen bin. Es kann sein, dass ich Zeit brauche, oder dass ich von einer Person aus unterschiedlichen Gründen nicht umarmt werden möchte. Der Mehrheit der Menschen gegenüber empfinde ich keinen intrinsischen Wunsch nach Berührung oder Körperkontakt und einen ungerichteten Wunsch danach, habe ich bislang noch nicht erlebt. Eine Berührung zu tolerieren oder zu geben, kostet Energie und meine Ressourcen sind beschränkt. Vertrauen ist dann noch ein komplexeres Thema.
Oft finde ich mich in Situationen wieder, in denen Menschen ein Bedürfnis nach Körperkontakt haben, dem ich auf meine Weise nicht so einfach nachkommen kann. Ich versuche dann, mich zu erklären und einen Weg zu finden, der weder mich noch mein Gegenüber verletzt oder auf dem zumindest sinnvolle Schadensbegrenzung möglich ist. Das ist aber manchmal gar nicht so einfach, wenn es um unterschiedliche menschliche Bedürfnisse geht, aber ich glaube, ich bin in den letzten Jahren besser darin geworden, mit meinen Grenzen umzugehen und sie sinnvoll zu kommunizieren. Auch die Klarheit darüber, wo unterschiedliche Bedürfnisse bestehen und Austausch, sind da sehr hilfreich. 
Trotzdem ist es manchmal mühsam und es gibt immer wieder herausfordernde Situationen. Die gab es immer wieder, seit ich „nicht auf dieselbe Weise Nähe gesucht habe wie andere Kinder“.
Seither versuche ich meinen Platz in einer Welt auszuloten, in der viel der Verbindungen zwischen Menschen über Körperkontakt und verschiedene Arten von Berührungen funktioniert. Versuche meine unterschiedlichen zwischenmenschlichen Beziehungen auszuloten, die scheinbar in einem Netz aus Berührungskontexten stehen, die für mich nicht immer funktionieren und schon gar nicht intuitiv sind.
Versuche einen Platz darin zu finden.
Auf meine eigene Art und Weise.

~ Finn