Küsse, die in Erinnerung bleiben

Notiz zum Inhalt: Der Text beschreibt auch übergriffiges Küssen.

Meine Eltern feiern jedes Jahr ihren ersten Kuss. Ich war immer davon ausgegangen, dass das ein erster Kuss auf den Mund war. Wars nicht. War ein Kuss auf die Wange. Und irgendwie war der für die zwei so eindrücklich, dass beiden klar war, dass sie ab dem Moment zusammen waren. Ein Kuss, der mit ein Grund dafür ist, dass ich hier bin.

Szenenwechsel. Vierte Klasse. Nachmittags, irgendwo auf dem Pausenhof, Flaschendrehen. Hatte mich überreden lassen. Küsse auf die Wange. War schräg. Nicht meins, aber ging gerade noch so. Mag mich noch an das Gefühl von zu grosser Nähe erinnern, an aufgedrehte Kinderstimmen, Gekicher – und ein Gefühl von Unrecht und Scham, jedes Mal, wenn soziale Hierarchien durch Bekundungen von Ekel gegenüber Ausgegrenzten manifestiert wurden. Wäre das Spiel für meine Altersgenossen gleich reizvoll gewesen ohne Aussenseiter in ihrer Mitte? Nach ein paar Runden schlug irgendwer vor, zu Küssen auf den Mund überzugehen. Ab da war ich weg und hab nie wieder mitgemacht.

Küsse auf die Wange oder knapp daran vorbei, drei, zur Begrüssung von Verwandten, zum Dank für ein Geschenk. Ein Kuss auf die Wange zur Begrüssung und zum Abschied von meiner Mutter, gewachsen aus dem abendlichen Gutenachtkuss. Vertraut, ein kleiner, nicht ausgesprochener Segen mit auf den Weg.

Ein klebrig nasser Kuss von einem von der Arbeit verschwitzten Nachbarn, ebenfalls auf die Wange zur Begrüssung. Der Geruch von Schweiss und ein Gefühl von Ekel. Besser beim Begrüssen nicht küssen. Die dicken feuchten Lippen eines Grossonkels, die eine Spur zu lange auf meiner Wange kleben.

Ein gruslig feuchter Kuss, unangebracht in meinen Nacken. Von einem alten, bärtigen Mann, bei der Verabschiedung an einer Konferenz. Ich überfordert von der Grenzüberschreitung, weder in der Position noch in der Lage, den Ehrengast zurechtzuweisen. Beim nächsten Mal dann.

Ein Tag, irgendwann im letzten Sommer, an dem ich zum allerersten Mal so etwas wie ein physisches Gefühl dafür habe, andere Menschen mit meinen Lippen berühren zu wollen. Nicht irgendjemanden. Alle, die da sind, die gerade so interessante Dinge sagen, so freundlich dreinschauen, mit denen es gerade so gemütlich ist. Einen Moment, in dem ich mir vorstellen kann, dass man Küssenwollen kann.

Wo ich kann, gehe ich Küssen aus dem Weg. Die meisten fühlen sich komisch und unangenehm an, manche befremdlich, manche unerträglich. Einzelne vertraut und bestärkend.

Vielleicht werde ich es einmal ausprobieren, das mit dem Küssen auf den Mund. Vielleicht lass ich es auch bleiben. Mal sehen.

~ Gez