Der Kuss von Gustav Klimt – Eine aromantische Betrachtung

CN: Amatonormative Bewertungen und Interpretationen, Amatonormative Bewertung im Zitat einer allonormativen Aussage

Gustav Klimt, Der Kuss, 1908.

Als ich den Raum betrete, hat sich heute bereits eine ganze Gruppe an Menschen vor Gustav Klimts Kuss versammelt. Der ursprüngliche vom Maler selbst gewählte Titel Werkes lautet ja eigentlich „Liebespaar“, ich aber kann nicht sagen, dass es sich beim Tourist*innenmagneten des Belvederes in Wien auch um mein persönliches Lieblingsbild aus der Sammlung handelt. Trotzdem ist mir das Bild inzwischen schon fast zu vertraut und vielleicht wäre ich schon im nächsten Raum, hätte nicht ein küssendes Pärchen meine Aufmerksamkeit erregt. Es ist nicht das erste Mal, dass mir das auffällt und ich habe längst aufgehört zu zählen, wie oft ich schon zwei Menschen gesehen habe, die sich vor dem Kuss küssen. Meist halten sie den Akt des Kusses dann noch in einem Foto fest, als hätte irgendjemand die Regel aufgestellt, dass Menschen erst dann offiziell in einer romantischen Beziehung wären, wenn sie ein kitschiges Bild von sich in Zärtlichkeit verbunden vor dem Kuss vorweisen können.
Für mich persönlich gestaltet sich die Betrachtung jedoch weniger romantisch.

Das Bild selbst misst 180×180 cm und ist montiert erhaben angebracht, sodass die Besucher*innen des Belvedere zu ihm hinaufschauen müssen. Klimt vollendete das Bild 1909 auf dem Höhepunkt seiner sogenannten „Goldenen Periode“ und in Gold gewandet ist auch das Liebespaar, das mir von seinem grauen und mit goldenen Tupfen übersähten Hintergrund entgegentritt.  Die meist als Mann gelesene Person, hält eine zartere, üblicherweise als weiblich gekennzeichnete, vor ihm kniende Person umschlungen und küsst sie auf die Wange. Die beiden befinden sich auf einer Blumenwiese, die auf der linken Seite des Bildes beginnt, ansteigt und dann in einer Art Abgrund endet. Das küssende Paar ist nicht nur an die Oberkante des quadratischen Bildes herangerückt, sondern befindet sich auch direkt am Ende der Wiese, hinter die nur von goldenen Tupfen durchbrochene grau-braune Leere.

Ob der romantische Appeal etwas mit dem Akt des Küssens zu tun hat oder auch damit, dass die beiden agierenden Personen sich auf einer Blumenwiese befinden, weiß ich nicht. Vielleicht bin ich zu aromantisch, um das zu sagen, aber viel mehr verwundert mich in diesem Zusammenhang über die von Klimt gewählten doch irgendwie unangenehm anmutenden Posen.
Links haben wir die Figur des Mannes, dessen Körper fast vollständig mit unterschiedlichen gelbgoldenen, beigen, weißen und schwarzen Rechtecken ornamentierten bedeckt ist. Im Gegensatz zur Kleidung der anderen Person sind hier nur vereinzelt kleine Kreise und schwarze oder graue Punkte zu sehen. Im Gegensatz dazu strotzt ihr Kleid ja geradezu von Kreisen, Spiralen und abgerundeten Formen. Von ihm ist dadurch hauptsächlich sein breiter Nacken zu sehen. Sein Gesicht ist mir abgewandt und so erkenne ich hauptsächlich die schwarzen Haare, einen Haarkranz aus dunkelgrünen Blättern und das rechte Profil seines Gesichtes. Die Frau hält er eng umschlungen und dank der eingezogenen Wangen, kann der*die Betrachter*in, auch ohne seine Lippen zu sehen, erahnen, dass er sie auf die Wange küsst.

Offensichtlich empfinden die anderen Besucher*innen das als romantisch, denn sie fotografieren munter weiter. Bald kommt auch schon das nächste Pärchen und ich beobachte, wie sie versuchen, die Pose von Klimts Liebespaar für ihr eigenes Foto möglichst genau nachzustellen. Ich wundere mich nur, dass die Person, die den Part des Mannes übernimmt, nicht schon Nackenschmerzen hat … Den Kopf gar so weit nach vorne und nach unten zu recken, muss schon ziemlich unangenehm sein. Wenn ich jemanden küssen würde, dann vermutlich nicht so.
Und was die als weiblich gelesene Person angeht … Das Pärchen merkt rasch, dass das nicht genauso funktioniert und selbst ähnlich scheint unangenehm zu sein.
Kein Wunder … Wenn ich mir das Bild so anschaue … Wie sie vor ihm kniet und den Kopf zur Seite geneigt hat … da kann ihre Pose ja eigentlich nur mit gebrochenem Nacken funktionieren. Autsch. Ich hoffe, das Pärchen gibt sich mit einer Annäherung an die Pose zufrieden, bevor sie sich weh tut. Es schmerzt schon ein wenig beim Zuschauen, wenn ich sehe, wie sie versucht ihren Hals zu verrenken und seitlich mehr oder weniger in einem 90° Winkel auf die eigene Schulter zu legen und dann noch … Ich muss mich selbst daran erinnern, dass sie bestimmt rechtzeitig aufhören werden, wenn sie merken, dass sie Pose zu unangenehm wird, um sie noch bildgetreuer nachzuahmen.
Aber ich kann nur denken: „Tut euch bitte nicht weh.“

Ich aber komme nicht darüber hinweg, dass ihr Kopf tatsächlich im rechten Winkel auf ihrem Nacken liegt. Die männliche Person, die Klimt in seinem Bild darstellt … hält er eine tote Frau im Arm? Küsst er seine verstorbene Liebe zum letzten Mal, bevor sie im symbolischen Abgrund verschwindet, weil sie für immer verloren bleibt? Gut, diese Gedanken sind dann wohl übertrieben und ich weiß, dass die unnatürliche Pose wohl eher dem immer abstrakteren und flächigeren Malstil Klimts in dieser Zeit zu verdanken ist. Außerdem wirkt die Frau mit ihren geröteten Wangen und Lippen lebendig. Eine ihrer Hände greift auch noch nach oben zu ihrem Liebespartner und umfasst damit die seine. Das ist genug, um auch mich davon zu überzeugen, dass sie noch am Leben ist und auch nicht gerade von dem Mann erdrosselt wird, der ihren Kopf mit beiden Händen umfasst.
Dennoch bleibt ein seltsames Gefühl, während ich die beiden bei diesem Liebesakt betrachte. Je eingehender ich mich ihrem Gesicht widme, umso unsicher werde ich mir, ob ich wirklich das sehe, was die anderen Menschen sehen, wenn sie Klimts Kuss betrachten.

Ob ich zu aromantisch, um dieses Paar wie alle anderen auf den ersten Blick als beidseitigen Liebesakt zu verstehen?
Natürlich kann an der Darstellung des Mannes als aktivem Pol – er gibt den Kuss – und der Frau als passivem Pol – Sie wird geküsst und gibt sich, wie viele Analysen sagen, „hin“ – vieles kritisiert werden. Und das geschah vereinzelt auch schon zu Zeiten Klimts, selbst wenn das Bild damals im Großen und Ganzen den gesellschaftlichen Rollenbildern der Zeit entsprach. Aber ist die Frau auf dem Bild tatsächlich begeistert von dem Kuss? Ja, ihre Wangen sind gerötet und sie lässt sich küssen, aber wirklich erfreut über die Nähe scheint sie mir auch nicht zu sein. Sie erwidert den Kuss nicht und wendet sich ab, sodass der*die Betrachter*in ihr ins Gesicht blicken kann. Ihre Augen sind geschlossen und ihr Gesichtsausdruck erscheint mir ambivalent. Die Hand mit der sie seine berührt, scheint mir etwas Zögerliches und unsicheres auszudrücken. Möchte sie seine Hand umfassen? Oder nicht viel mehr zur Seite schieben? Und auch die andere Hand, mit der sie seinen Nacken umfasst, wirkt auf mich eher angespannt und nicht so als würde sie die Zärtlichkeit genießen.

Und dann kniet sie auch noch am Ende der Blumenwiese wie an einer Klippe. Ihre Unterschenkel sind proportional etwas zu lang – Klimt hat sie nachträglich noch einmal verlängert – und ihre Füße enden direkt am Abgrund. Es wirkt fast so, als würde sie diese im Boden einhaken, um nicht nach hinten zu stürzen, wenn der Mann sie loslässt. Im Hinblick darauf erhält auch die verkrampfte Hand, mit der sie seinen Nacken umschlingt eine andere Bedeutung. Würde sie nach hinten stürzen, wenn der Mann sie nicht mehr festhält?
Ist sie von seiner Liebe abhängig?
Oder ist es etwas anderes?
So oft höre oder sehe ich, wie Klimt mit seiner Darstellung die romantische Liebe sakralisiert. Meist in Bezug darauf, wie die Gewandung der beiden Figuren an byzanntinische Mosaike erinnern. In der Spätantike hatte das Gold tatsächlich diese Funktion und Wirkung und wir wissen auch, dass Klimt diese Mosaike (sowie deren flächige Darstellungsweise – wir befinden uns zu diesem Zeitpunkt 200 Jahre vor der Entdeckung der Zentralperspektive in der Malerei) gekannt hat. Das Goldmosaik symbolisierte die Unendlichkeit des Raumes, in der die heiligen Figuren stehen. Gustav Klimt nutzt diese Darstellungsweise. Mir aber fällt es schwer, darin etwas zu sehen, was Verherrlicht werden sollte.

Interessant ist auch, zu erwähnen, dass die Frau im Bild mit ihren rotbraunen Haaren große  Ähnlichkeit mit einer Frau hat, die dem Maler nahe stand und die er mehrfach portraitierte. Es handelt sich dabei um Emilie Flöge, eine durchaus interessante Figur des 19. und 20. Jahrhunderts. Früh bricht sie aus bürgerlichen Konventionen aus. Statt eine romantische Beziehung einzugehen, wie es von ihr erwartet wird, gründet sie einen erfolgreichen Modesalon. Sie emanzipiert sich, lernt wie zu ihrer Zeit sonst hauptsächlich Männer Autofahren, konzentriert sich auf ihre Karriere und arbeitet auch erfolgreich mit Gustav Klimt zusammen. Er zeichnet das Logo für ihr erfolgreiches Unternehmen, Etiketten und Muster für ihre Kleider und empfiehlt den Damen, die er portraitiert, ihre Reformkleider. Sie schreiben Briefe und er verbringt den Sommer mit ihr jenseits der Großstadt. Er bringt seine Liebe zu ihr mehrfach zum Ausdruck. Die beiden stehen sich nahe, heiraten jedoch nie und haben auch keine Kinder.
Emilie Flöge hat entschieden nicht zu heiraten.

Dennoch bittet er sie um Verzeihung und darum, ihm treu zu bleiben, als er in kürzester Zeit und unbeabsichtigt zweifacher Vater wird und sie reagiert nicht unbedingt erfreut auf dieses Ereignis. Dennoch arbeiten die beiden weiterhin zusammen und nach Klimts Tod erbt Emilie Flöge die Hälfte seines Vermögens. Sie bewahrt 200 Briefe von ihm, Zeichnungen und Bilder in einem Raum auf, in dem sie alle Erinnerungen an ihn zusammensammelt und schafft sich so ihr eigenes Mausoleum. Die beiden hatten ein enges Verhältnis, vielleicht eines, das sich bis heute nicht so richtig in die üblichen Kategorien von „Romantischer Beziehung“ und „Freundschaft“ fassen lässt.
Eine Doku zur Beziehung der beiden urteilt: „Sie sind komplementär, unzertrennlich. Weder lediglich Freunde noch wirklich ein Paar.“[1]
Geht es nur mir so, oder muss noch jemand anderer dabei an alternative Beziehungskonzepte denken? An Beziehungen, die die Grenzen üblicher gesellschaftlicher Kategorien verwischen und darüber hinausgehen? Erwische nur ich mich dabei, dass ich überrascht bin, ein so großes Interesse für eine Person zu entwickeln, die vielleicht in die Darstellung der Frau in Gustav Klimts Kuss eingeflossen ist?

Ob nun Gustav Klimt in seinem Bild wirklich seine in vielen Punkten wohl dennoch unerfüllte Liebe und sein Verlangen nach Emilie Flöge einfließen hat lassen, sei dahingestellt. Schließlich haben wir keinen Brief oder keine Niederschrift des Malers, in der er dies wortwörtlich bestätigt, auch wenn er immer wieder sein Leid über die unerfüllte Sehnsucht klagt und alles tut, um dennoch an Emilies Seite zu bleiben. Selbst als sie sich dauerhaft einer Heirat verwehrt.

„Wer über mich – als Künstler, der allein beachtenswert ist – etwas wissen will, der soll meine Bilder aufmerksam betrachten und daraus zu erkennen suchen, was ich bin und was ich will.“[2]

Auch wenn Klimt uns selbst zu Spekulationen einlädt, können wir nicht 100 % sagen, was in ihm vorgegangen ist. Aber wenn es nur eine legitime und nicht vollständig von der Hand zu weisende Möglichkeit ist, dass der Maler in seiner Darstellung die erlebte Ambivalenz zwischen Anziehung und Abstoßung einfließen hat lassen … Wieso genau wird dieses Bild so stark romantisiert? Warum genau kommen ständig Leute herein, fotografieren sich vor dem gemalten Paar und bemerken nichts von der Ambivalenz in ihrer Haltung oder den Punkten, die an der Darstellung Klimts kritisiert werden könnten?
Und warum genau bin ich überrascht darüber, mich nach eingehender Betrachtung des Bildes ein ganz klein wenig mit der dargestellten Frau zu identifizieren, schon allein weil ich selbst dem Akt des Küssens nicht unbedingt zugeneigt bin? Oder überrascht dass ich in einer Weggefährtin Klimts eine Person finde, die sich eindeutig gegen eine Heirat entschieden hat und andere Dinge vor romantischen Partner*innenschaften priorisierte. 

Der Kuss von Gustav Klimt wird vermutlich nie wirklich eines meiner Lieblingsbilder in der Sammlung des Belvederes werden. Dazu ist mir es zu golden, zu romantisiert und viel zu sehr zum symbolischen „Sinnbild der Liebe“ erhoben worden. Zu viele Menschen sprechen von Hingabe und der Heiligkeit der (romantischen) Liebe, wenn sie von diesem Bild sprechen. Diese Dinge sehe ich aber nicht, wenn ich den Kuss betrachte – oder zumindest nicht unmittelbar. Ich kenne den Prozess, wie Menschen zu dieser Analyse kommen. Vielleicht ist es das Fehlen von romantischen Gefühlen, dass dazu führt, dass ich mich bei diesem Bild von meinen Mitmenschen und Kolleg*innen distanziert fühle. Gerade wer das Bild nicht zum Sinnbild der Liebe erhebt, findet es meist eher kitschig, besonders jetzt wo es nicht mehr urheberrechtlich geschützt ist und auf allen möglichen Artikeln erworben werden kann.
Ich aber empfinde es nicht einmal mehr als kitschig.
Wenn ich den Kuss sehe, sehe ich Ambivalenz, eine Mischung aus abgestoßen und angezogen sein. Ich sehe eine Person, die sich an eine andere klammert und Angst hat ins Nichts zu stürzen. Gustav Klimt hätte bestimmt nicht damit gerechnet, dass jemand seine symbolische Darstellung einer Liebesbeziehung jemals so verstehen könnte, aber in gewisser Weise sehe ich vielleicht auch eine Person, die gesellschaftliche Liebesnormen gerne verlassen und sich sich abwenden würde, aber noch daran festhält, weil sie nicht weiß, was sie auf der anderen Seite erwartet. Und vielleicht würde sie im nächsten Moment den Mut fassen, loszulassen und nach hinten fallen, um dort, wo jetzt Leere ist, einen Ort für ihre eigene Geschichte zu finden.
Eine Geschichte außerhalb von gesellschaftlichen und amatonormativen Normen ihrer Zeit.
So wie vielleicht auch Emilie Flöge.


[1] Liebe am Werk – Emilie Flöge & Gustav Klimt. (OT: L’amour à l’oeuvre – Emilie Flöge et Gustav Klimt.) Dokumentarfilm, Frankreich, 2020, 26:13 Min., Buch und Regie: Stéphanie Colaux, Bonne Compagnie, arte France, Reihe: Liebe am Werk (OT: L’amour à l’œuvre. Couples mythiques d’artistes), Erstsendung: 13. September 2020 bei arte, 22:45-22:53.

[2] Jurtschitsch, Aruelia, Klimt Persönlich: Briefe, Bilder, Einblicke: What about Klimt?. 29.04.12 (https://www.artmagazine.cc/content60443.html#:~:text=Wer%20%C3%BCber%20mich%20%E2%80%93%20als%20K%C3%BCnstler,Malen%20und%20Zeichnen%20kann%20ich.) [11.09.2021]

Weitere Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=NClyNVv4okY

Bildnachweis:Dobai, Johannes/ Novotny, Fritz: Gustav Klimt. Salzburg 1967, Tafelteil der Gemälde, Tafel 69.