Chancen leben

Ein Schlüsselband in den Farben der Aro-Flagge.
Ein Armband mit demselben Muster.
Das sind die Gegenstände, die ich immer bei mir habe.
Auf der Pinnwand über meinem Bett ein Schlüsselanhänger mit meinem Namen und auch hier eine Aro-Flagge direkt neben einem Schlüsselband, das von meiner Nicht-Binärität zeugt. Im Kleiderschrank unten unter andrem eine weitere aromantische Flagge und auf meinem Wohnzimmertisch in der flachen Glasschale ein Stein, grünlich mit einem weißen und einen schwarzen Streifen, ein subtiler Anklang und eine kleine Erinnerung daran, was offensichtlicher in meinem Schlafzimmer oder an meinen Wohnungsschlüsseln zu sehen ist.

Nachdem ich lange Zeit überhaupt keine Arospec*-Symbole besessen habe, trage ich jetzt zumindest die aromantische Flagge immer bei mir. Aber warum eigentlich? Und wozu brauchen wir überhaupt Symbole für Identitäten auf dem aromantischen Spektrum? Ist es nicht genug, zu wissen, dass ich aromantisch bin und mich mit anderen Menschen austauschen kann, die in Bezug auf diese Themen ähnlich erleben? Ist es notwendig, mein aromantisches Erleben zu einem so wichtigen Teil meiner Identität zu machen, dass ich nicht nur Blogbeiträge darüber verfasse, sondern meine Aromantik auch noch sichtbar kommuniziere – oder zumindest jeder Person, die die aromantische Flagge kennt und meine Schlüssel oder häufiger mein Armband zu Gesicht bekommt, was ja auch schon eine gewisse Voraussetzung ist? 
Vielleicht stellt sich dabei auch die Frage, warum ich überhaupt kommunizieren muss, dass ich aromantisch bin. Schließlich bin ich an den Punkt gekommen, wo ich mein Erleben in Worte fassen und beschreiben kann. Damit kann ich bestimmte Aspekte meines Lebens kontextualisieren und in ein kohärentes Narrativ einordnen. Oder in mehrere Narrative, die ich auseinandernehme, für mich passend zusammensetze und teilweise Stücke selbst schreibe. Jedenfalls habe ich jetzt die Mittel, bestimmte Erlebnisse einzuordnen und für mich gewinnbringend zu deuten. Da rede ich sowieso schon darüber, erzähle von meinen Erfahrungen oder tausche mich aus, welchen Gewinn bringen da noch Symbole?
Welchen Gewinn bringen Symbole der Arospec*-Community?

Einerseits ist es natürlich so, dass Symbole und Zeichen ein Gruppen- und Zugehörigkeitsgefühl stärken. Wo Menschen sich zu Gruppen zusammenfinden entstehen eigene Sprache, neue Zeichen und mitunter mehr oder weniger geteilte Narrative. Die Art der Kommunikation wird von der Community beeinflusst und gemeinsame Symbole, wie die aromantische Flagge oder Aro-Ringe ermöglichen es, seine Zugehörigkeit relativ einfach auszudrücken und zu zeigen, dass die eigene soziale Identität oder Aspekte davon mit der betroffenen Gruppe verbunden sind. Und gerade ich – ein Mensch, für den das Wort „Zugehörigkeit“ eigentlich sehr negativ besetzt ist – markiert deutlich über die Flagge eben genau diese Teile der eigenen Identität. Und das nachdem ich die letzten Jahre damit beschäftigt war, Zugehörigkeit eben von mir fernzuhalten und lieber „nirgendwohin zu gehören“, soweit das überhaupt geht. 
Warum?
Bislang war Zugehörigkeit immer etwas, was mir ein Stück weit „passiert“ war, oder das die Folge von anderen Entscheidungen war. Mal war ich aufgrund von Gegebenheiten Teil einer Gruppe und habe das so hingenommen, mal habe ich eine Entscheidung getroffen, die dazu geführt hat, dass ich Menschen zugehörig war, die dieselbe oder ähnliche Lebensentscheidungen getroffen hatten. Dieas Art von Zugehörigkeit war seit ich denken kann immer von Einschränkungen und der in der Gruppe geltenden sozialen Normen charakterisiert, also von ausgesprochenen oder unausgesprochenen Verhaltens- und Handlungsregeln, deren befolgen oder nicht-befolgen mehr oder weniger stark geahndet wird. Dieses ahnden kann ein Lob oder ein Lächeln sein. Es kann sich um einen missbilligenden Blick, Gerede oder den Ausstoß aus der Gruppe handeln. Hier gibt es ein weites Spektrum, aber klar ist, dass es Grenzen gibt. An manchen durfte ich mich reibe, andere waren unüberschreitbar und das Risiko wäre zu hoch gewesen.
Zugehörigkeit zu einer Gruppe war für mich immer mit Einschränkungen verbunden und es war schwierig, mich über manche Grenzen hinwegzusetzen, auch wenn ich irgendwo selbst ohne Worte und Narrative wusste, dass sie mir nicht entsprechen. Und als ich dann endlich dabei war, mich über diese Grenzen hinwegzusetzen, wollte ich nicht direkt wieder im nächsten eng umgrenzten Bereich landen. Darum war jede Identifikation mit Begriffen erst einmal eine kleine Herausforderung. Jede Gruppe, der ich mich dadurch angenähert habe, musste erst einmal unter die Lupe genommen und differenziert betrachtet werden. Die Community-Kultur musste hinterfragt werden und muss es auch jetzt immer wieder. Selbst zu einem Zeitpunkt, an dem ich Zugehörigkeit auf fragmentarische Art und Weise (und unter bestimmten Voraussetzungen) wieder für mich akzeptiere und annehmen kann, bleibt das Bild einer Person, die sich den meisten Zugehörigkeiten bewusst widersetzt, immer noch ein gewisses Ideal für mich.
Nicht zu sehr „zugehörig“ sein.
Die eigene Freiheit bewahren.

Warum also nicht bloß den Begriff „aromantisch“ als beschreibend nutzen wenn überhaupt oder schweigend für mich behalten? Warum Teil einer Arospec*-Community sein, die wie alle Gruppen durchaus an manchen Stellen Verbesserungspotenzial hat? Warum dann Blogbeiträge zu meiner Aromantik verfassen und diese auch noch über die Flagge jeder Person mit dem notwendigen Vorwissen sichtbar machen?
Ich könnte den Begriff – wenn er schon eine nützliche Beschreibung ist und mir Worte gibt – auch für mich behalten. Leise sein. Keine Symbole benutzen und andere Personen mit aromantischen Identitäten bis auf einzelne Gespräche ignorieren und sie nur dann aufsuchen, wenn mir Austausch gerade konkret weiterhelfen würde? Warum nicht auch die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe ablehnen, wie zu anderen, wo ich mit noch viel mehr Vorsicht und Skepsis herumstreife, mich eher beobachtend Verhalte oder Begriffe wirklich hauptsächlich für mich selbst und als Beschreibung verwende?
Was ist anders an der Arospec*-Community (und anderen queeren Communitys), dass ich nicht nur offen über mein Erleben als aromantische Person spreche, oder mich in Arospec*-Räumen bewege, sondern über die Farben der aromantischen Flagge auch noch mit möglichst unmissverständlicher Deutlichkeit meine Zugehörigkeit kommuniziere? Ich könnte schließlich auch andere Symbole verwenden. Zum Beispiel einen Frosch oder Pfeil und Bogen, wobei ich besonders letzteres persönlich sehr ansprechend finde. Aber ein Frosch kann eben immer auch nur ein Frosch sein, Pfeil und Bogen könnten auch von der Faszination zeugen, die Bogenschießen in mir weckt und auch eine Flagge ist natürlich kein zu 100 % klares Symbol. Vollständige Klarheit existiert nicht und am Ende sind Symbole immer abiträr, aber wer die Farben der aromantischen Flagge kennt, muss schon alle Hebel in Bewegung setzen, um eine alternative und genauso sinnvolle Erklärung für die Flaggenfarben auf meinem Armband zu finden. Es sei denn, die Person möchte glauben, dass ich es zufällig gefunden habe und eben die Farben schön finde. Und das gilt für alloromantische Menschen genauso wie für die Arospec*-Person, die abseits des Internets vielleicht noch nie eine andere Person mit einer aromantischen Identität getroffen hat oder die zufällige Bekanntschaft, die gerade ihre romantische Orientierung hinterfragt und nicht sicher ist, ob sie jemals ohne zu suchen einer Person begegnen wird, die vielleicht manche Aspekte ihres Erlebens teilt.

Nicht nur das Wort „aromantisch“ zu verwenden, um mein Erleben zu beschreiben, sondern auch in Austausch mit der Community zu treten und mich zumindest zum Teil mit ihr zu identifizieren, mich als ihr zugehörig zu betrachten, war eine bewusste Entscheidung. Wenn mir meine Erfahrungen mit Zugehörigkeit eines gebracht haben dann wohl, dass ich meine Entscheidungen in diesem Bereich vorsichtig treffe und dass ich bei jedem Schritt darauf geachtet habe, was ich für mich in Anspruch nehme, was damit kommt und wo ich lieber vorsichtigere herangehe oder mich einer Norm nicht anschließe. Ich weiß, worauf ich mich eingelassen habe und worauf nicht, weil ich mich bewusst damit auseinandergesetzt habe.
Ich weiß, wieso ich die Farben der aromantischen Flagge trage.
Und zwar bestimmt nicht, weil ich mich mit Zugehörigkeit zur Arospec*-Community auf einen Package-Deal eingelassen hätte, der mich dazu verpflichtet oder nötigt. Bislang habe ich auch keine Symbole oder Zeichen getragen. Niemand hat mich verpflichtet, etwas daran zu ändern.
Aber ich habe es getan.
Ich trage Accessoires in den Farben der aromantischen Flagge, weil Aromantik ein bestimmender Faktor darin ist, wie ich meine Lebenswirklichkeiten und zwischenmenschliche Beziehungen wahrnehme und ich nicht verbergen werde, dass es so ist. Ich zeige bewusst meine Aromantik, damit sich vielleicht die eine oder andere Arospec*-Person davon ermutigt fühlen kann und weil ich in der Konfrontation mit mir selbst (unter anderem über meine eigene Aromantik) gelernt habe, wie wichtig die Zugänglichkeit unterschiedlicher Narrative und Begriffe eigentlich sein kann. Offen über Aromantik zu sprechen oder zu schreiben ist für mich eine Sache, aber in meinem Alltag als Person erkennbar zu sein, die neben vielen anderen Dingen auch aromantisch ist, eine andere. Ich kann vieles zu Aromantik sagen, eine Podcast-Folge aufnehmen oder einen Blogbeitrag veröffentlichen. Vielleicht kann sich die eine oder andere Person mit meinen Erfahrungen identifizieren oder etwas daraus lernen und dann ist damit wohl schon etwas gewonnen, aber meine alltäglichen Begegnungen mit Menschen finden auf einer anderen Ebene statt.
Hier kommt es zu einem persönlichen Austausch. Ich bin nicht eine Person, die einen Blogbeitrag geschrieben oder eine Podcast-Folge aufgenommen hat, sondern ein menschliches Gegenüber. Das gilt für die Kollegin, die nicht glauben kann, dass ein Mensch ohne romantische Liebe gut leben kann genauso wie für die Person, die gerade ihre romantische Orientierung hinterfragt, aber noch nie zufällig einer Arospec*-Person abseits des Internets begegnet ist. Das gilt für meine guten Freund*innen sowie für kurze Bekanntschaften, mit denen ich kaum ein Wort wechsle und das gilt für die alloromantische Person, die vielleicht gerade nicht in einer Beziehung ist. Meine Aromantik zu kommunizieren bedeutet, anderen Menschen Konzepte zugänglich zu machen oder sie daran zu erinnern, es bedeutet vielleicht die eine Person – oft auch mich selbst – einmal herauszufordern oder eine andere zu ermutigen. Es bedeutet das eine oder andere Gespräch über Aromantik und das Spektrum oder auch das stillschweigende Lächeln, von dem ich nie etwas erfahren muss.
Ich mag Zugehörigkeit in derselben Form akzeptieren, wie ich es früher getan habe und das ist gut so. Aber in meiner eigenen Form identifiziere mich mit der Arospec*-Community und trage ihre Symbole, kennzeichne mich als zugehörig, weil ich es als Chance sehe.
Daran wachsen zu können.
Für mich und für andere.

~ Finn